Eine beliebte Floskel unter Geographen lautet: „Geographen kennen sich im Gelände aus, verlaufen sich aber in Städten.“ Ob dieser Spruch der Realität entspricht, ist schwer zu verifizieren. Ein Hinweis auf den Orientierungssinn und das räumliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen ist er allemal. Kaminske erläutert auf allgemein verständliche Weise, wodurch räumliches Wahrnehmungsvermögen geprägt wird, wie unsere Sinnesorgane, insbesondere „der optische Apparat“, funktionieren und wie aus den „Reizwahrnehmungen“ ein Bild in unserem Gehirn entsteht und gespeichert wird.

Neben seinen neurologischen Ansätzen beschreibt der Autor, der in Karlsruhe und Göttingen Geographie und Biologie studierte, in Mannheim promoviert und an der LMU München habilitiert wurde, in neun Kapiteln auch anschaulich, wodurch unsere räumliche Wahrnehmung und unser Orientierungssinn entwickelt und gestört werden; weshalb Kinder ihre (räumliche) Umwelt anders auffassen als Heranwachsende und Erwachsene; was mental maps sind; wie wichtig die Orientierung „für das Leben im Raum“ sei. Der Begriff Parallelwelten, bislang vorwiegend in Bezug auf soziologische, pädagogische und psychologische Phänomene angewendet, folgt man Kaminske, finde seine berechtigte Anwendung auch in den Disziplinen, die sich mit dem Raum beschäftigen. Womöglich zählt das räumliche Wahrnehmungsvermögen zu den Ursachen bei der Bildung von sozialen Parallelwelten. Kaminske liefert genügend Interpretationsspielraum, Letzteres zu folgern.
Angereichert mit einer Fülle an Abbildungen (Karten, Mustern, Fotos) und einer Reihe von Tabellen, veranschaulicht der nach zwischenzeitlichen Berufungen an die LMU München und die TU Dortmund nun am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung in Karlsruhe unterrichtende und an der Geowissenschaftlichen Fakultät der LMU in Geomorphologie und Geoökologie forschende Autor zudem, zu welchen Fehlleistungen wir aufgrund unterschiedlichen Raum- und Raumordnungsverständnisses neigen können. Gefeit sei davor vom Grundsatz her niemand. Auch Architekten, Geowissenschaftler, Astronomen, Stadt-, Regional- und Raumplaner nicht. Was man lokal, regional, national, global und – wie jüngst durch eine Entdeckung des erst 15jährigen Neil Ibata¹ im Hinblick auf die Ordnung des Andromedanebels – kosmisch immer wieder bestaunen kann.
Ist also nichts so wie es scheint? Durchaus, könnte man behaupten. Alles ist eine Frage der Wahrnehmung. Ein Phänomen, das so alt wie die Menschheit ist. Was sich anhand der Entwicklung der Kartographie seit Beginn der Seefahrt bis zur Satellitenbeobachtung unserer Erde und deren kosmischen Standortes nachverfolgen lässt. Kaminske widmet sich in seinem Werk natürlich auch ausführlich dem Kartieren (Kapitel 5-7), wobei er die reine Lehrbuch-Kartographie² vermeidet, hingegen das Kognitive in den Vordergrund stellt. Neben dem Technisch-Handwerklichen geht es zwar auch ums Klassisch-Thematische, allerdings auch um die „Einflüsse geschlechtsspezifischer Unterschiede der Raumwahrnehmung“ innerhalb der „Rahmenbedingungen des kognitiven Kartierens“. Gender-Mainstream-Anhänger könnten sich hier auf den Plan gerufen fühlen. Bei genauerer Betrachtung von Kaminskes Ausführungen kämen sie allerdings nicht umhin, sich mit seinen Begründungen zu befassen, die auf neurologischen Erkenntnissen fußen. Subsumiert heißt es, „Männer und Frauen verwenden unterschiedliche Strategien, um sich in ihrer Umwelt zu orientieren.“
Zum Ende des Buches bietet der Autor „Konsequenzen“ und Hilfestellungen für „den Lernvorgang“ zur räumlichen Wahrnehmung an, insbesondere zur visuellen. Hierbei zielt er im wesentlichen auf das noch beeinflussbare frühe Stadium kindlicher und jugendlicher Entwicklung ab und bietet für Studenten praktische Hinweise. Dass es erstrebenswert ist, ein allgemeingültiges Mittel in der räumlichen Wahrnehmung zu erreichen, die sich ja nicht nur auf die drei Dimensionen des Raumes beschränkt, sondern aus der auch eine verlässliche Einschätzung – ohne Hilfsmittel – von Entfernungen und Strecken ableitbar ist, liegt auf der Hand. Für das Leben und die Bewegung im Alltag ist eine räumliche Orientierung existentiell. So banal es klingt, aber die Nachrichten sind voll von Meldungen über Menschen, die sich desaströs im Wald verlaufen, sich in alpinen Regionen verirren, in Städten orientierungslos sind und in Sackgassen geraten, die verkehrte Richtung auf Autobahnen einschlagen oder sich sogar in Gebäuden verlaufen.
Wir neigen dazu, unsere Umwelt, gar die Welt an sich permanent auf eine Weise wahrzunehmen, zumindest im Hinblick auf das Räumliche, die uns verlässlich scheint, ohne uns allzuviele Gedanken darüber zu machen, ob unsere Wahrnehmung der (räumlichen) Realität auch wissenschaftlichen Messungen und Erkenntnissen standhält. Selten fragen wir uns, worauf unsere räumliche Wahrnehmung fußt. Auf Karten, mit denen wir in der Schulzeit erste Erkenntnisse über die Größe der Welt, unserer Nation, unseres Bundeslandes, unserer Kommune, unseres Wohnviertels erhalten hatten? Die Erkundung der Umgebung zu Fuß und mit dem Fahrrad? Karten sind wichtige visuelle Instrumente für unsere räumliche Einschätzung von der Welt, in der wir leben. Andere Medien, etwa das Fernsehen mit seinen mannigfaltigen Variationen an thematischen Karten und seit zwei Jahrzehnten auch das Internet mit seinen Web-Karten-Diensten vermitteln uns ein Bild von unserer Welt. Wie genau es ist, ist für die meisten Menschen erst einmal unerheblich. Es sollte heutzutage via Web oder App im Grunde keine Probleme mehr mit Orientierungsschwierigkeiten geben. Dennoch gibt es trotz aller moderner Hilfsmittel immer noch Schwierigkeiten mit Höhe, Breite, Tiefe, mit der Dreidimensionalität, mit dem individuellen Leben im Raum, in der unmittelbaren Umgebung des Einzelnen.
Die rationale Erfassung des Raums, egal welcher Größe, stellt die menschliche Psyche permanent auf die Probe. Ich bin so klein, die Welt ist so groß, das Universum noch größer, schier unfassbar. So mag man denken, so mag es sein. Dennoch gilt es, sich zurechtzufinden. Volker Kaminskes Buch ist ein essentieller Beitrag zum Verständnis über räumliche Orientierung und Wahrnehmung – und spannender Lesestoff.
¹ Neil Ibata ist ein französischer 15jähriger aus Strasbourg und Sohn des am dortigen Observatoire Astronomique beschäftigten Astronomen Rodrigo Ibata. Der Sohnemann entdeckte, dass – salopp gesagt – in der Andromeda-Galaxie (Andromedanebel) entgegen bisheriger Erkenntnisse Ordnung herrsche
² Zum Beispiel: Günter Hake, Kartographie, Bd. I, aufbauend auf Viktor Heißler, Kartographie (1961-68; Aufl. 1-3) als 4. Aufl., und Bd. II (1970). Erschienen bei de Gruyter, Berlin
Volker Kaminske: Die räumliche Wahrnehmung. Grundlagen für Geographie und Kartographie. Hardcover, 200 Seiten.; ISBN 978-3-534-23638-1; Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt, Dezember 2012

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