Es waren schlimme Tage für Mensch, Tier und Natur, als die deutschen GDL-Lokführer streikten und Millionen von Bahnfahrern sich zusätzlich in Autos setzten, um an ihr Ziel zu gelangen. Sie verursachten endlose Staus und die dadurch vermehrt produzierten Schadstoffe müssen Ökologen geschmerzt haben. Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen in der Landschaft, so der Untertitel des von Hermann Baier, Rainer Holz (Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, Güstrow), Frithjof Erdmann, (Institut für Landsschaftsökologie und Naturschutz, Greifswald) und Arno Waterstraat (Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie, Kratzeburg) herausgegebenen Kompendiums, mögen da ungleich schwerer – weil dauerhaft – wiegen.
Der räumliche Aspekt des knapp 700 Seiten umfassenden Werkes, das auf ein Forschungsprojekt (1994-1999) zurückzuführen ist, „das nicht zuletzt durch die politischen Pläne zur verkehrsinfrastrukturellen Modernisierung Ostdeutschlands im Prozess der deutschen Einigung ausgelöst wurde“, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, steht zweifellos im Vordergrund. 27 Forscher verschiedener Universitäten (Heidelberg, Greifswald, Halle, Dresden), Institute und privater Einrichtungen (Kiel, Stralsund, Jülich) waren daran beteiligt. Herausgekommen ist ein Buch, das die Raum- und Flächennutzung – vor allem in Deutschland – im Hinblick auf deren Wechselwirkungen zwischen ökonomisch-infrastrukturellen Präferenzen und ökologisch-zoologischer Würdigung analysiert.
Für das westliche Europa, und herausragend Deutschland, gilt, dass fast nur noch Kultur- und nutzungswerte Landschaften existieren. Meist dem Menschen und seinen ökonomischen Anliegen dienend, wird nach Durchsicht des Buches klar: Urlandschaften – Urwälder, Urstromtäler – gibt es kaum noch. Einzig für uns unzugängliche Gebirgslandschaften zeitigen die letzten Refugien für manche Tier- und Pflanzenart. So haben Raum-, Landschafts- und Regionalplaner der letzten 100 Jahre gezielt, oft aber ohne es zu wollen, am Artensterben mitgewirkt, indem sie in ihren Planungen die notwendigen Freiräume für Tier- und Pflanzenarten allzu wenig berücksichtigten.
Rainer Holz spricht von einem „Spannungsverhältnis“ zwischen „Raumbedarf und Raumangebot“ und gibt zu bedenken, „dass das Raumangebot endlich“ sei. Man könnte sich auch fragen, wie Blindschleiche, Haar- oder Niederwild auf die andere Seite der Straße gelangen können, ohne Gefahr zu laufen, zermatscht zu werden oder vor den Kühler eines PKWs zu geraten. Das tun die Autoren, und es ist sicherlich eine interessante Frage auch für Versicherungsunternehmen, weshalb in deren entsprechenden Abteilungen dieses Buch nicht lediglich im Regal stehen sollte, sondern auch durchgearbeitet werden müsste. Veranschaulicht werden eine Reihe von praktischen Lösungsansätzen und Maßnahmen, die auch der dem Werk beigefügten CD-Rom und einigen der auf interessante Webseiten führenden Links entnommen werden können. Fast unbemerkt vom Wanderer wurden – vor allem in den Niederlanden, längst aber auch in Deutschland und anderen Ländern – kleine, schmale Unterführungen für regional vorkommene Amphibien und Nager eingerichtet, und für das mehr Freiraum und weite Wege gehende Nieder-, Groß- und Haarwild, für manchen Räuber wie Fuchs oder Wildkatze bepflanzte Überführungen.
Die Autoren, die sich mit ihren Beiträgen in der Tradition etwa des Naturschützers, Journalisten und Gründers der Monatsschrift Natur, Horst Stern, oder Paul Harrisons (Die Dritte Revolution, Suhrkamp 1996) bewegen, hingegen wissenschaftlich-rational, decken alle wesentlichen Gesichtspunkte der Freiraumgestaltung und des räumlich sinnvollen Naturschutzes in diesem in drei Hauptteile gegliederten Lehrwerk ab. Ein gut 100 Seiten starkes Literaturverzeichnis, in dem so ziemlich alle Rang und Namen zu dieser Thematik Genießenden und wichtige institutionelle Publikationen vorkommen, unterstreicht, wie intensiv die Autoren sich mit dem komplexen Forschungsgegenstand auseinandergesetzt haben.
So gibt die Beschreibung des Forschungsgegenstands und die veritable Bestandsaufnahme der Ist-Situation dann auch die für Praktiker, Politikgestalter und Studenten so notwendige naturschutzorientierte und planerische Handlungsanweisung, gewissermaßen gar eine Aktivlegitimation, wie man es besser machen könnte als bisher. Manches ist politisch-gesetzgeberisch bereits im Fluss oder verordnet worden, mitunter höchstrichterlich. Etwa die „Ökologiepflichtigkeit des Eigentümers“, wie Detlef Czybulka in seinem Beitrag Der Freiraum – ein Schutzgut?“ sie präferiert. Anderes liegt noch sehr im Argen, vor allem die Umsetzung erklärter Absichten seitens des Gesetzgebers. Das Baugesetzbuch (BauGb), das Naturschutzrecht und darin eingebettete Gesetze wie Planungsrecht oder Immissionsschutzgesetz reichen in ihren aktuellen Fassungen nicht aus, um vorhandene botanisch-zoologische Habitate vor dem Raumbedarf des Menschen zu sichern oder sie gar zu erweitern. Wer sich das vorliegende Buch eingehend zu Gemüte führt, bekommt Lösungsansätze geliefert.
Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Arno Waterstraat (Hg.). Freiraum und Naturschutz. Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen in der Landschaft. Mit zahlreichen Abbildungen, Grafiken Tabellen und einer CD-ROM. Hardcover, broschiert, 696 S.; ISBN 978-3540-43940-0. Springer, Heidelberg, 2006

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