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Künstlerinnen bei der Arbeit | Andreas Bratschke / GEOWIS
VIETNAM | KUNSTHANDWERK

Faden um Faden

In Vietnam hat sich ein Kunsthandwerk herausgebildet, das sich von anderen deutlich unterscheidet: Gemälde aus Seidenfäden. Sie stehen bei Vietnam-Touristen hoch im Kurs
Von MAIK MENSING |
Lesedauer ca. 3-4 Minuten |
26.09.2012

Allein der Werkstoff ist kostbar: Seide. Bis zu tausend Meter lang kann ein Rohseidefaden eines Kokons der Seidenspinnerraupe sein. Um ein Kilogramm Rohseide zu erhalten, braucht es zwischen 10.- und 12000 Kokons. Der textile Rohstoff ist seit zirka 5000 Jahren in Asien bekannt und wird seitdem zur Herstellung von Kleidung verwendet. Jahrhundertelang nutzte man – vor allem in China – die Fäden auch zur Erstellung von Siebgeweben für schablonierte Serigraphien, um farbige Muster auf die Stoffe aufzudrucken. Von Indien über China und Südostasien bis Japan wird analog zur Serigraphie die Seidentuchmalerei angewendet, ein Kunsthandwerk, das erlernt werden muss. Zu Zeiten der asiatischen Monarchien entstanden mehrere Quadratmeter große Gobelins, Wandbilder, Baldachine und Bezüge aus bemalter Seide. Längst auch hat sich die Seidentuchmalerei als eigene Kunstform etabliert (z. B. in der Aquarelltechnik). 

Großformatiges Seidenfadengemälde | Andreas Bratschke / GEOWIS

Eine besonders aufwendige und kunstfertige Technik ist die Seidenfadenverwebung von Hand zur Erstellung von gemäldeartigen Bildern, die im Süden Chinas (Provinzen Yunnan und Guangxi Zhuang) und in Vietnam verbreitet ist. Hierbei werden zigtausende zuvor gefärbte Seidenfäden einzeln in ein Trägermaterial eingezogen und miteinander verwoben. Das fertige Bild wirkt sodann, als ob es gemalt worden wäre. Unweit der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi und um die Küstenstadt Nha Trang liegen einige Dörfer, die von dieser Kunst leben, seit an Kultur interessierte und von diesen Gemälden faszinierte Touristen sich mit Führern auf den Weg dorthin machen oder die traditionellen Kunstwerke in Handicraft Centern kaufen. An manchen dieser Kunstwerke arbeiten die Künstlerinnen und Kunsthandwerker in Familienateliers ein Jahr oder länger – jeden Tag.

Je nach Aufwand und Größe kosten die Werke zwischen 500 und 2000 US-Dollar und bringen so in etwa den Jahresverdienst für eine Person. Anders als auf Märkten, auf denen um den Preis für ein Kilo Fisch, Krabben, Obst, Gemüse oder Sonstiges gehandelt werden kann, verbietet es sich bei diesen Kunstwerken. Es gilt der Festpreis. Inzwischen haben sich Nachahmer gefunden, die industriell fertigen, aber nicht die Qualität erreichen, die von Hand erbracht wird. Meist werden die Motive mittels industriellem Siebdruck auf die Seide aufgebracht. Doch die wahren Künstlerinnen und Kunsthandwerker lassen sich auf die Finger schauen, indem sie offene Ateliers haben und sich von Touristen bei ihrer Arbeit zusehen lassen. 

Großformatiges Seidenfadengemälde | Andreas Bratschke / GEOWIS

Der Aha-Effekt bei den Zusehenden ist dann groß. Sätze wie „Ich bekomme nicht mal einen Bindfaden durchs Nadelöhr und die schaffen das im Mikrometerbereich“ hört man in ehrfürchtigem Tonfall genauso wie „Ich stehe hier schon zwei Stunden und sehe nichts. Wie machen die das nur?“. Zwei Stunden eines Jahres sind ja auch nichts, wenn man bedenkt, dass ein solches Gemälde hunderttausende an Fäden beinhaltet, die zudem farblich zugeordnet werden müssen. Mancher zieht auch einen Vergleich, wenn er sagt: „Wenn ich sehe, dass ’ne kalifornische Hausfrau für ein paar dahingematschte Ölfarbenkleckse auf Leinwand 8000 Dollar erzielt, nur weil sie einen Draht zu ’ner Agentur hat …“.

Es sind vorwiegend US-Amerikaner, die die Kunstwerke kaufen, zumal sie unter den ausländischen Touristen in der Mehrzahl sind. Womöglich plagt sie das schlechte Gewissen, haben sie doch viel Leid in dieses Land gebracht. Auch Franzosen, Skandinavier, Schweizer und Deutsche kaufen und tragen damit zum Auskommen von Familien und Erhalt kleingewerblicher lokaler Wirtschaft bei.

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