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Reichstag, Berlin | Xiang Chen
VOLLVERSORGUNGSMENTALITÄT

Sechs Stellvertreter für Lammert

Niemand hat die Absicht, dem Staat auf der Tasche zu liegen - außer ausrangierte Politiker
Von Jochen Henke |
Lesedauer ca. 4-5 Minuten |
22.10.2013

Als Hans-Dieter Evers und Tilman Schiel 1988 das Buch Strategische Gruppen: Vergleichende Studien zu Staat, Bürokratie und Klassenbildung in der Dritten Welt veröffentlichten, konnte man sich im damaligen Westdeutschland noch einigermaßen entspannt zurücklehnen und aus arrivierter Position heraus mit dem Finger auf diese Dritte Welt zeigen.¹ Klandestines Raffkedenken und -handeln einer kleinen Mittel- und Oberschicht in Bezug auf Posten, Einkommen, Boden und die Ausweitung von Aneignungschancen oder -mechanismen sind die Kernthemen des Buches. Evers/Schiel verwenden hierzu den Begriff Hybridisierung. Im Jargon etwa: Belastung des Staatshaushaltes durch Aufblähung des vom Steueraufkommen finanzierten Personalbestands und Plünderung des Volksvermögens.

Den Fingerzeig auf die Dritte Welt, die heute die Vierte ist, sollte man tunlichst vermeiden, vor allem aus europäischer und auch aus deutscher Perspektive. Denn was Evers/Schiel vor einem Vierteljahrhundert zu Südostasien konstatierten, ist längst als Blaupause nach Europa und Deutschland gelangt. Das von Brüssel aus von einer nicht von den EU-Bürgern gewählten Kommission zentralistisch regierte Europa ist die größte Ansammlung strategischer Gruppen mit Selbstversorgungsmentalität weltweit. Ein bürokratisch wie kostenintensives Monster. Nach diesem Prinzip funktioniert inzwischen auch das deutsche Parlament, das immer teurer wird. Allein die Abgeordnetengehälter zuzüglich Kostenpauschalen belaufen sich auf mehr als 150 Millionen Euro jährlich. Was auf den ersten Blick – zum Beispiel aus Konzernsicht – als Peanuts erscheint, bekommt eine andere Qualität, wenn man dekliniert, wie der Versorgungsapparat dazu funktioniert und wenn man sieht, wer alles überflüssigerweise auf der Payroll des Steuerzahlers steht.

Neuerdings etwa eine sechste Bundestagsvizepräsidentin, Claudia Roth (Grüne/B90). Die Frau, die noch jüngst öffentlich schluchzte, als ihr die Basis die Rote Karte zeigte, musste nach dem blamablen Wahlergebnis ihrer Partei vom 22. September 2013 versorgt werden, nachdem sie fröhlich vom Parteivorsitz zurückgetreten war. Sie wusste, dass sie eine der Vizes vom nun wiedergewählten Bundestagspräsidenten Norbert Lammert würde. Gemäß dem Abgeordnetengesetz (AbgG) stehen der Heulsuse wie allen anderen fünf Vizes von Lammert nun 12378 € Gehalt (a.k.a. Abgeordnetenentschädigung) plus 716 € Aufwandsentschädigung sowie 4123 € Kostenpauschale zu, mithin 17217 €. Dienstwagen der Ober- oder oberen Mittelklasse, kostenlose Freiflüge mit der Bundeswehr, der Kranich- oder einer anderen Airline und Fahrten erster Klasse mit der Deutschen Bahn kommen hinzu. Kürzungen gibt es aber auch. So werden 20- bis 100 € fällig, wenn Abgeordnete und andere Funktionsträger anberaumte Sitzungen im Parlament schwänzen. Das tut weh.

Man darf sich in einer Art Monarchie wähnen, wenn man Bundestagsvize ist. Der Bochumer CDU-ler Lammert, dessen Dissertation gerade unter der Lupe betrachtet wird, hat statt zuvor fünf nun sechs Stellvertreter. Wozu? Möglicherweise für den Fall, dass Lammert mit fünf Vizes auf Dienstreise geht und der sechste ihn in Berlin vertritt? Dritte Welt? Mindestens. Nur bei der Beförderung von Parteisoldaten zu verbeamteten Staatssekretären – mitunter nach einem Regierungswechsel flugs in den einstweiligen Ruhestand versetzt (also Gehaltsbezug ohne Gegenleistung) -, die zuvor ordentlich ihre Nase in jede sich bietende Ritze ihrer Vorgesetzten gesteckt hatten, existiert dieses Versorgungsprinzip bislang standardmäßig. Nun also auch bei abgehalfterten Parteivorsitzenden.

Lammert, grandios wiedergewählt, hat keine Skrupel, sechs Vizes zu haben. Er muss sie ja nicht bezahlen. Man stelle sich vor, VW-Chef Martin Winterkorn hätte sechs Stellvertreter – er müsste sich seinen Aktionären dazu erklären. Doch wie sollte er den Popanz begründen? Lammert muss nichts begründen. Er ist ein Verfassungsorgan. Jeweils zwei Vizeposten für die CDU/CSU und SPD, je einen für Grüne und Linke. Ginge es schlicht nach den im Bundestag vertretenen Parteien, dürfte jede nur einen Vize stellen. Rund 40000 €/Monat gespart. Ginge es nach dem Prinzip der Wirtschaft, hätte Lammert lediglich einen Vize. Das reichte. Kungelei, Korruption, Verschwendung und Hybridisierung strategischer Gruppen? Die gibt es in Deutschland offiziell nicht. Alles geht mit rechten Dingen zu. Sechs Vizes für Lammert? Der Bundespräsident hat schließlich auch einen Hofstaat. Allerdings keine sechs Vizes. Die Frage ist zudem: womit beschäftigen sich diese sechs Stellvertreter den ganzen Tag?

¹ Hans-Dieter Evers, Tilman Schiel: Strategische Gruppen: Vergleichende Studien zu Staat, Bürokratie und Klassenbildung in der Dritten Welt. Reimer Verlag, Berlin, 1988

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