Beinahe alle Gutmenschen an der Meinungsmacherfront waren sich anfangs einig darin, dass Provokateur und Bundesbankvorstandsmitglied Thilo Sarrazin (SPD) wegen seines Buches Deutschland schafft sich ab, dort enthaltener umstrittener Passagen zu einer verfehlten Integrationspolitik vermischt mit ethnologisch zweifelhaften Zügen, und seinen jüngsten, diffus rassistisch anmutenden Äußerungen entlassen werden müsse. Vergangene Woche erhielt Bundespräsident Christian Wulff von der Bundesbank den Antrag auf Entlassung Sarrazins, den er am 31. August medial und unverblümt eingefordert hatte. Mittlerweile gilt: Wulff war vorschnell. Seit Tagen steht er in der Kritik und ist wegen dieser präsidial unangemessenen Causa auf Glatteis geraten. BP Wulff ist der einzige, der den Entlassungsantrag rechtswirksam unterzeichnen kann. Ob die Entlassung Sarrazins auch vor Arbeitsgerichten standhielte, ist längst nicht klar. Der Vorgang ist die erste deutliche Kerbe in Wulffs noch junger Amtszeit. Eine leichte hatte der BP sich diesen Sommer erst geholt, nachdem bekannt geworden war, dass er bei dem mit ihm befreundeten Unternehmer Carsten Maschmeyer in dessen Anwesen auf Mallorca urlaubte.
Das „Image“ der Bundesbank leide unter Sarrazin, so eines der Kündigungsargumente der Bundesbank im Hinblick auf den Entlassungsantrag. Den Nachweis dazu bleibt das Unternehmen schuldig. Sarrazin hat seinen Arbeitgeber weder angegriffen noch über seine Nebentätigkeit nicht vorab informiert. Die über Jahrzehnte gepriesene Unabhängigkeit der Bundesbank steht zunächst nicht schlechter oder besser da als zuvor. Die Breitseite kommt von oberster regierungspolitischer Stelle. Denn ginge es nach Bundeskanzlerin Angela Merkel, sei der Ruf der Deutschen Bundesbank durch das Sarrazin-Buch „nicht beschädigt“ worden. Man darf gespannt sein, was Merkel auf die vom Bundespräsidenten angeforderte Stellungnahme mitteilen wird. Wie inzwischen aus Juristenkreisen durchdringt, wandelt Sarrazin arbeitsrechtlich auf recht solidem Boden.
Selten waren die im Parlament vertretenen Parteien von einem innenpolitischen Thema so überrascht worden wie bei der Integrationspolitik, die durch ein Buch eines SPD-Mitglieds angestoßen wurde, das deshalb vergangene Woche noch als Unperson galt und mit vorschnellen, wenig durchdachten Äußerungen des SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel belegt wurde. Von Parteiausschluss war schnell die Rede. Mit Kritik merklich zurückgehalten hat sich die Linkspartei. Mittlerweile rudert das gesamte politische Establishment von SPD, Grünen, CDU, CSU und FDP auffällig zurück, und die zuvor knüppelstarke Mainstream-Presse – allen voran Spiegel/Spiegel Online, Die Zeit oder Bonner Generalanzeiger – zieht nach. Plötzlich sind Sarrazins Thesen diskutabel und scheinen einige Denkanstöße gegeben zu haben, was dem Autor massig Auftritte in TV-Sendungen, aber auch Anfeindungen und Drohungen beschert. Sarrazin geht nur noch mit Personenschützern vor die Tür. Wie schon häufiger, lag der mediale Mainstream – folgt man Umfragen – zum Mainstream in der Bevölkerung falsch und verbreitete seine Meinung konträr zur Umfragemehrheit der Bevölkerung. Nun ist er bemüht, nachzuziehen, weil eine ordentliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich mit Sarrazins Thesen anfreundet, wenngleich dessen Terminologie zuweilen unbehaglich wirkt.
Sarrazins Kohärenzverweise in Bezug auf Erbanlagen und Physiognomie sind nicht geeignet, die Debatte über eine misslungene Integration von Zuwanderern – und damit einhergehender Einwanderungspolitik – substantiell zu bereichern. Hier schrecken Wortwahl und Semantisches zwar ab, weil sie an das untergegangene Dritte Reich erinnern. Das kann als Geisteshaltung Sarrazins interpretiert werden, als sprachliches oder semantisches Unvermögen, als Marketing-Coup seines Verlages oder als gezielte Provokation und Polarisierung. Für jeden ist etwas dabei. Doch das Kernproblem misslungener Integration kann es nicht verbergen. Nach und nach beginnt das Sarrazin-Buch in den Parteien und in der Regierung anders wahrgenommen zu werden. Wahllos werden nun Vorschläge aufs Tapet geworfen, die von Strafen und Sanktionen bis zu gezielter Einwanderungspolitik reichen. DIW-Präsident Klaus Zimmermann, eigentlich für Wirtschaft zuständig, aber immer für eine Pointe gut, meint, Deutschland brauche jährlich mindestens eine halbe Million gut ausgebildeter Zuwanderer. Das ist noch geschönt, legt man die vor zehn Jahren erschienene Schmid-Heigl-Mai Studie zugrunde¹, in der unter demographischen Aspekten jährlich das Vier- bis Zehnfache von Zimmermanns Ziffer an gut ausgebildeten Zuwanderern benötigt würde, wobei der Bevölkerungsbestandserhalt eine zentrale Rolle spielt. Dass das ohne ein Einwanderungsgesetz nicht geleistet werden könnte, liegt auf der Hand. Immerhin wagt sich der zuletzt mit wenig durchsetzbaren Forderungen aufgefallene DIW-Chef („25 Prozent Mehrwertsteuer“), das Thema Zuwanderung auch zu bewerten.
Die Debatte und das Umdenken beginnt gerade erst. Nichts ist für einen Staat und dessen Bürger schlimmer als mit einem ausländerfeindlichen Image behaftet zu sein. Unternehmen beeilen sich inzwischen, ihre postive Multikulti-Außenwirkung zu proklamieren. Auch solche, die ohnehin nie ein Problem mit Angestellten ausländischer Herkunft hatten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière gab heute die Losung aus, mehr Lehrer mit Migrationshintergrund einzustellen. Wenn aber ein großer Teil der Deutschen – in der Masse Nachfahren von Zuwanderern – ein unbehagliches Gefühl gegenüber der Multikultigesellschaft hat, weil die Grundschulklassen mehrheitlich von Migrantenkindern gefüllt werden, den Mädchen das Kopftuchtragen in der Schule per Gesetz erlaubt wird, Basisschulabschlüsse nicht erreicht werden oder sich Ghettos bilden, und sie eine Verweigerungshaltung zur bisherigen Integration wahrnimmt, muss das Thema abseits aller Wunschvorstellungen sozialpolitischer Idealisten behandelt werden.
¹ Josef Schmid, Andreas Heigl, Ralf Mai: Sozialprognose, Olzog Verlag, München, 2000
Update (2010-09-10): Thilo Sarrazin hat sein Amt als Bundesbankvorstandsmitglied heute aufgegeben. Während beim Bundespräsidenten und bei der Bundesregierung darüber Erleichterung herrscht, kritisiert Medienberichten zufolge der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, dass Sarrazin nicht gefeuert wurde. Zudem spricht er von „politischer Bankrotterklärung“ dem Verpassen einer Chance, solchen „Rassismus in unserer Gesellschaft“ nicht zu tolerieren.

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