Mit dem Dolch
Der sinnbildliche Stoß mit dem Dolch der einstigen Bundeskanzlerin Angela Merkel erfolgte in einer Erklärung auf ihrer Webseite am Tag nach der Zustimmungsmehrheit zu CDU/CSU-Kanzlerkandidat Merz’ Fünfpunkteplan. Einleitend verweist sie auf die von Merz im November 2024 abgegebene Aussage, im Bundestag „nur mit SPD und Grünen zuvor vereinbarte Entscheidungen auf die Tagesordnung zu setzen, damit keine Mehrheit mit der AfD zustande kommt“, mit der Merz auf die bereits bestehende sogenannte Brandmauer ohne Not noch draufsattelte, und lobte seine „staatspolitische Verantwortung“. In ihr eigener Manier führte sie dann an, sie „halte es für falsch“, wenn er „sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden“ fühle und „dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD“ ermögliche. Stattdessen plädierte sie dafür, dass „alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können.“
Einen Kanzlerkandidaten der eigenen Parteizugehörigkeit generell, im besonderen jedoch drei Wochen vor der Wahl derart zu desavouieren, weil dieser sich offensichtlich keinen Bückling mehr vor den Gralshütern der schwarz-grün-rot-gelb-dunkelroten, mit lila Punkten gesprenkelten Brandmauer gestatten möchte, zeugt von einem Menschen, der nach 35 Jahren noch nicht das Wesen von Demokratie verstanden zu haben scheint; zudem von einem machtversessenen, kaum aus dirigistischem Sozialismus herausgewachsenen mit Tunnelblick. Dass die Zurückweisung illegaler Einwanderung sowohl von deutschem, als auch europäischem Recht gedeckt ist, wie jüngst Hans-Jürgen Papier äußerte, Verfassungsrichter a.D., blendete sie aus. Genauso unterschlug sie, dass die sich für Demokraten haltenden Parteien hinter der Brandmauer die „schrecklichen Attentate“ erst ermöglichten, seit sie 2015 die Grenzen für illegale Massenzuwanderung für praktisch nicht existent erklärt hatte.
Vorauseilende Zustimmung erhielt die eine Zeitlang als Mutti titulierte Altkanzlerin von einigen ihrer verbliebenen Gesinnungsgenossen mit Abnabelungsphobie wie Henrik Wüst (Ministerpräsident, Nordrhein-Westfalen), Daniel Günther (Ministerpräsident, Schleswig-Holstein), Kai Wegener (Regierender Bürgermeister, Berlin), Marco Wanderwitz (Ostbeauftragter) und etwa Saskia Esken (Parteivorsitzende der SPD) sowie den Grünen, die mit dem Merz-Plan nicht einverstanden sind. Dabei treten sie und weitere Mitglieder dieser „unsere Demokratie“ für sich reklamierenden Parteien geradezu in einen Überbietungswettbewerb der schrillen Töne. Während Wegener erklärte, mit ihm werde es „niemals eine Zusammenarbeit, Kooperation oder gar eine Koalition mit den Rechtsextremisten der AFD“ geben und er „niemals einem Gesetz im Bundesrat zustimmen“ werde, das „nur in Abhängigkeit von den Stimmen der AFD“ zustandegekommen sei, hatte es zuvor bereits vergleichbare Äußerungen von Günther gegeben.

Mit feiner Klinge
Gegenwind erfuhr die Altkanzlerin dann allerdings von ihrer Parkett und Florett etwas besser beherrschenden ehemaligen Mitstreiterin Johanna Wanka (CDU). Die ebenfalls in Ostdeutschland sozialisierte Bundesministerin für Bildung und Forschung, einst Rektorin der Hochschule Merseburg, und Professorin für Ingenieurmathematik lokalisierte unbeeindruckt die Herkunft politischen Übels. „Wir erleben einen Angriff auf die Demokratie und die grundgesetzlich verbrieften Bürgerrechte durch Akteure aus dem linken und grünen politischen Spektrum, der in einzigartiger Weise die Attacken von rechts instrumentalisiert, um die politische Mitte zu diffamieren“, ließ sie sich vernehmen. Anders als Vertreter des Merkelschen Duktus ist Wanka der Auffassung, dass man „Anträge in den Bundestag einbringen können“ müsse, „unabhängig davon, welche politischen Akteure diesen zustimmen könnten.“ Damit nicht genug. Sie bezeichnete es als „schlicht widersinnig und irrational, wenn man das für richtig Erkannte aus Angst vor Diffamierungen, sei es von rechts oder links, nicht in die Diskussion einbringt, vorstellt und für Zustimmung“ werbe. „Selbstzensur“ sei „einer demokratischen Partei unwürdig.“
Ein Zeichen großer Verbundenheit mit Merkel, die aufgrund ihrer dirigistischen, häufig kaum nachvollziehbaren Innen-, Außen- und Migrationspolitik zum links-grünen Spektrum gezählt werden kann, gibt Wanka nicht zu erkennen. Stattdessen sorgt sie sich um den fortschreitenden Wokeismus. „Wenn man nicht mehr seine Meinung frei äußern darf oder sich fürchtet, dies zu tun, nur weil gewisse Akteure, auf deren Meinung man keinen Einfluss hat, gegebenenfalls ähnliche Aussagen treffen beziehungsweise diesen zustimmen“, drohe „das Ende jeglicher demokratischen Streitkultur.“
Mit dieser Einschätzung steht sie nicht allein in weiter Flur. Seit der Wiedervereinigung haben immer weniger Deutsche den Eindruck, ihre Meinung frei äußern zu können. 1990 waren laut Statistischem Bundesamt 78 Prozent der Auffassung, sie könnten ihre Meinung frei äußern. Im November 2024 hatten einer Insa-Umfrage zufolge 78 Prozent „Angst“ dies zu tun. Einen derart bedauerlich hohen Wert hatte es vielleicht in der ehemaligen DDR gegeben, möglicherweise lag er auch höher, in der alten Bundesrepublik gab es ihn hingegen nie. Am rasantesten fiel er während der Regierungszeit Merkels ab. Als sie 2005 Kanzlerin wurde, hatten sich noch ca. 70 Prozent auf Artikel 5 GG verlassen, als sie 2021 abtrat nur noch 43 Prozent.
Mit der Kelle
Am Freitag scheiterte Merz’ Entschließungsantrag zur Zuwanderungsbegrenzung, die traditionell mit einem Wortungetüm vorgestellt worden war („Zustrombegrenzungsgesetz“). Neben den erklärten Gegnern gingen Merz’ weitere Parteimitglieder von der Fahne wie auch einige Abgeordnete der freien Demokraten. Wie groß Merkels Anteil daran ist, lässt sich nur schwer bestimmen. Merz versuchte, es sportlich zu nehmen. Selbst wenn die Vorlage angenommen worden wäre, hätte sie Bindungswirkung entfaltet. Dass er dann aber ohne Not versuchte, die entstandenen Risse in der über Jahre errichteten Brandmauer zu verputzen und einige seiner Vertrauen, etwa der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Thorsten Frei, ihm dabei behilflich sind, konterkariert die Fünfpunkteplan-Rallye bis zur Farce. Dabei weiß jeder Bauingenieur oder Maurer, dass das Verputzen von Rissen im Mauerwerk nur Kosmetik ist.
Mit wem Friedrich Merz seine populistisch inszenierten Vorschläge zur Migrationsbegrenzung umsetzen will, sollte seine Partei gemeinsam mit der CSU am Wahlabend die Mehrheit der Wählergunst zuteil werden, bleibt fraglich. Zumindest bis zur Wahl hält sich somit eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten wie in den vergangenen zehn Jahren weiterhin daran, Artikel 16a Abs. 2 GG unberücksichtigt zu lassen, sofern Drittstaatler aus EU-Ländern illegal nach Deutschland einreisen, und das praxisuntaugliche Dublin-III-Verfahren präferiert.

GEOWIS