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Baldeneysee Essen
Baldeneysee, Essen | Foto: Uwe Goerlitz
ÜBERSCHWEMMUNGEN

Ein Hauch von Bangladesch

Nach der so genannten Jahrhundertflut vom Sommer 2002 zeigt sich einmal mehr, wie wenig europäische Industriestaaten gegen Überschwemmungen gerüstet sind. Die verheerenden Überschwemmungen der Donau- und Elbeflussysteme zeigen, dass zur Daseinsvorsorge radikaler Hochwasserschutz notwendig ist
Von TOM GEDDIS |
Lesedauer ca. 10 Minuten |
06.06.2013

Nach der sogenannten Jahrhundertflut vom Sommer 2002 zeigt sich einmal mehr, wie wenig europäische Industriestaaten gegen Überschwemmungen gerüstet sind. Meteorologen haben es kommen sehen. Seit Wochen sind die Böden aufgrund des langen Winters und niederschlagreichen Frühlings hydrologisch gesättigt, die Grundwasserspiegel aufgefüllt. Dauer- und Starkregenfälle in Süd- und Südostdeutschland, Österreich, Tschechien und Südpolen sorgen für Hochwasser und Überschwemmungen enormen Ausmaßes. Ein Ende ist noch nicht in Sicht.

Allein in die durch neun Länder fließende und am Delta in die Ukraine reichende Donau, mit 2858 km Länge und einem Einzugsgebiet von 817000 qkm Europas zweitmächtigster Strom – nach der Wolga -, münden Abflüsse aus den Alpen, Karparten, Sudeten und deutschen Mittelgebirgen von – aneinandergereiht – mehr als 15000 km Länge. Sieben davon weisen eine Länge von über 500 km auf, so der Pruth (989), die Theiß (966), die Save (945), die Drau (749), der Sereth (726), der Olt (615) und der Inn (517). Vielerorts wurde Katastrophenalarm ausgerufen, einige Städte sind regelrecht abgesoffen. So Passau, wo Inn und Ilz in die Donau münden, Deggendorf (Bayern), Grimma und Greiz (Sachsen), Meißen (Thüringen), Melk (Österreich). Auch halb Tschechien, wo die Moldau und viele ihrer Zuflüsse massiv über die Ufer getreten sind, steht unter Wasser. In der Slowakei sieht es kaum besser aus. Entlang der Elbe versuchen die Städte und Ortschaften, sich gegen die bedrohlichen Wassermassen zu schützen, doch längst ist absehbar, dass man der Flut nicht Herr wird und weiterhin enorme Schäden entstehen.

V-Wetterlagen (5B-, C-, D) lauten die meteorologischen Kurzbezeichnungen für die für die Hochwassersituation wesentlich verantwortlichen Tiefdruckgebiete. Ausgehend vom Atlantik bildet sich das Tief über der Biskaya, zieht über das südliche Frankreich und Norditalien, wo es sich über den Golfen von Lyon und Genua durch Verdunstung warmer Oberflächenwässer verstärkt und je nach Lufttemperatur und Windrichtung über die östlichen Ausläufer der Alpen herum nach Österreich, Ungarn, Deutschland, Tschechien und Polen zieht und dort die aufgesogenen Wassermassen ablässt. Selten fand ein meteorologischer Begriff derart Eingang ins Bewusstsein der Deutschen. Verheerende Auswirkungen hatte eine derartige Wetterkonstellation zuletzt im August 2002. Elbe, Mulde, Müglitz, Rote und Weiße Weißeritz nebst anderen Flüssen wurden zu breiten Strömen, Bäche zu Wildwasserabflüssen. Neben vielen anderen Ortschaften wurde Grimma nahezu weggeschwemmt und Dresden schwer getroffen. Die deutschen Steuerzahler hat das damalige Hochwasser laut eines Berichts der Bundesregierung mindestens 13 Milliarden Euro gekostet. Aus der damaligen Katastrophe habe man gelernt, sagte Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz jüngst in die Mikrophone. Offenbar nicht genug, denn anders ist kaum zu verstehen, weshalb Zulassungen für fest vertäute Restaurantschiffe, wie in Dresden, auf der Elbe erteilt oder nicht zurückgenommen wurden. Die saufen gerade ab. Ihre Besitzer werden nach Entschädigung rufen, falls ihre Versicherungspolicen eine Schadensregulierung ausschließen.

Die einstigen Schäden in Grimma, die mit 255 Millionen Euro beziffert wurden, und anderen Orten wurden großenteils beseitigt. Nach Inkrafttreten des Hochwasserschutzgesetzes im Mai 2005 wurden vielerorts Schutzmaßnahmen gegen Überschwemmungen in städtebauliche Planungen einbezogen. Für Grimma beauftragte die zuständige Landestalsperrenverwaltung (LTV) verschiedene Arbeitsgruppen der TU Dresden mit Konzepterstellungen, wobei die LTV von einem „statistisch alle 100 Jahre auftretendem Hochwasser“ ausging. Die Gesamtplanung wurde 2008 vom Regierungspräsidenten (Leipzig) genehmigt. Am Ende sollte unter anderem eine 1600 Meter lange Schutzwand die Altstadt vor der Mulde schützen. Realisiert wurden bis zur erneuten Überflutung gerade einmal 350 Meter. Bürgermeister Matthias Berger bezweifelt, ob die örtliche Bevölkerung den Wiederaufbau noch mal schaffe. So wie Berger geht es dieser Tage vielen Ortsvorstehern, deren Orte in Schönheit in den Fluten versinken. Offenbar beschäftigen die zuständigen Behörden für Hochwasserschutz nicht ausreichend Fachleute, die in der Lage wären, aus der Statistik andere Schlüsse zu ziehen.

Längst ist evident, dass das globale Klima sich verändert hat und weiter verändern wird. Globale Klimaveränderungen wirken sich grundsätzlich auch regional und lokal aus. Mitunter reicht ein Blick auf die Weltkarte, um festzustellen, dass nichts so dynamisch ist wie das Klima und die darin eingebetteten Wetterlagen. Dem Hochwasserschutz als Planungsgrundlage einen mittleren Ereignishorizont von hundert Jahren zugrundezulegen, ist angesichtsdessen fahrlässig. Mit ein paar Wehren, mobilen Spundwänden, Hydrauliksystemen und allzeit bereitstehenden Sandsäcken Hochwasserschutz zu betreiben und dahinter den Wiederaufbau und Schadensbeseitigung vorzunehmen, kann auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Er ist vergleichbar mit von Kindern errichteten Sandburgen am Strand, die jammern, wenn ihre zu nah am Wasser gebauten Kreationen weggespült werden.

Gefragt sind Maßnahmen, die in der Wahrnehmung der deutschen und resteuropäischen Bevölkerung auf wenig Verständnis stießen. Das Hochwasserschutzgesetz sieht hierzu einige Regelungen vor. So gilt seit Anfang 2013 das Verbot von Ackerbau und landwirtschaftlicher Nutzung in von Hochwasser gefährdeten Gebieten. Auch gilt, dass die in solchen Gebieten lebende Bevölkerung „geeignete Maßnahmen“ zur Sicherung ihres Hab und Guts eigenverantwortlich zu treffen hat. Allerdings wird in diesem noch lange nicht ausreichenden Gesetz vielfach Verantwortung zur Umsetzung auf die Länder übertragen. Die wiederum delegieren an die Landkreise und so weiter. Wie in Bangladesch, wo regelmäßig der Monsun zigtausende Tote hinterlässt, will der Großteil der in Überschwemmungsgebieten lebenden deutschen Bevölkerung nicht umsiedeln oder wegziehen, obwohl Versicherer sich längst sträuben oder es ablehnen, Policen auszustellen. Das schon sollte ein Warnhinweis sein. Sollen in Deutschland künftig immer wieder zweistellige Milliardenbeträge für Wiederaufbau und Schadensregulierung geleistet werden? Oder soll auf Nachhaltigkeit zum Schutz der Bevölkerung gesetzt werden?

Nachhaltigkeit bedeutet im Zweifel Umsiedlung und Enteignung, um Flüssen ausreichend Ausbreitungsflächen zu gewähren. Am Rhein ist das in kleinen Bereichen schon lange der Fall – etwa Auen in Bonn und Düsseldorf -, und ohne Enteignung und Umsiedlung vonstatten gegangen. Bayerns Ministerpräsident Seehofer hat zumindest für landwirtschaftlich genutzte Flächen von Enteignung gesprochen. Konzepte zum radikalen Hochwasserschutz liegen schon seit Jahrzehnten in den Schubladen, und selbst neuere wissenschaftliche Erkenntnisse finden noch keinen Eingang in die Köpfe von Landräten, Regierungspräsidenten oder welchen Behörden auch immer.

Renaturierung lautet das Zauberwort, das seit mehr als 20 Jahren in den Geowissenschaften eine feste, umsetzungsfähige Größe ist. Es riecht nach Öko, Grüne/Bündnis 90, Romantik. Tatsächlich ist es ein rigoroses Konzept, das bisher nur unzureichend und meist kleinräumig umgesetzt wurde. Lokal reicht bei Flussystemen wie Donau, Elbe, Oder, Weichsel nicht aus. Verglichen mit den großen Überschwemmungen in China, wo der Yangtze trotz des Drei-Schluchten-Damms partiell immer noch regelmäßig über die Ufer tritt, und einer Reihe anderer Flüsse, etwa der Jialing, Ackerkrume wegschwemmen, verglichen auch mit den regelmäßigen Überschwemmungen von Russlands großen Flüssen, der großen Flut in Pakistan 2010 und in den französischen Alpen im August 2011, ist das, was gerade in Deutschland und Osteuropa geschieht, in der Fläche mickrig, in Tragik und Leid indes außerordentlich.

Natürlich sind von Hochwasser betroffene Ortsteile von Mittel- und Großstädten wie Regensburg, Passau, Dresden, Magdeburg im Sinne der Wasserläufe nicht so einfach zu renaturieren, was hier einem Überlassen des Flusslaufs gleichkäme. Schon gar nicht wären Umsiedlungen auf den ersten Blick finanzierbar. Aber mittel- bis langfristig? Wie schwierig es ist, die richtigen Konzepte umzusetzen, und wie schwierig es ist, das Politische aus der Diskussion herauszuhalten, konnte man jüngst in der Talkshow Hart aber fair verfolgen. Dort saßen Bundesumweltminister Altmaier (CSU), Ex-Agrarministerin Künast (Grüne/B90), Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche, der Meteorologe Karsten Schwanke und der Klimaforscher Mojib Latif. Während Altmaier im wesentlichen sachlich, aber kaum zukunftsorientiert argumentierte, Künast sich wie eine strebende Pennälerin aufführte, indem sie sich ständig wiederholte und im Grunde nichts zum vermeintlichen Nutzen der Sendung beitrug, bekriegten sich der Volkswirtschaftler Tichy und der Geowissenschaftler Latif.

Vor 30 Jahren gehörte Latif noch zur Riege der Klimaforscher, die sich nicht festlegen wollten, inwieweit ein Wandel stattfände und ob er, falls doch, anthropogen mitverursacht wäre. Inzwischen ist er überzeugt davon, dass der Klimawandel evident ist. Roland Tichy hingegen ist mit der Thematik nirgendwo in Verbindung zu bringen. Von ihm gibt es keinen wissenschaftlichen Beitrag dazu. So muss man sich fragen, weshalb Tichy zu einem Thema eingeladen wurde, zu dem er seriös nicht im Ansatz substantielle Aussagen treffen konnte? Schlimmer noch als die telemediale Abarbeitung zu geowissenschaftlichen Phänomenen ist das behördliche Vorgehen. Wo pragmatisches Handeln und kurze Entscheidungswege gefordert sind, werden erst mal Kommissionen, Planungs- und Arbeitsgruppen eingesetzt. Umweltverträglichkeitsprüfungen müssen berücksichtigt werden, und vor allem: betroffene Anwohner. In Dresden-Laubegast etwa bildete sich eine Bürgerinitiative gegen die Errichtung einer Flutmauer, die die schöne Aussicht auf die Elbe eingeschränkt und womöglich die Grundstückspreise gedrückt hätte. Nun steht das Wasser über 1,5 Meter in den Straßen. Ähnlich wie die Laubegaster verhielten sich wohl auch die Anwohner an Potsdams Havelufern.

Angesichts der unterschiedlich gelagerten Präferenzen von Anwohnern in von Hochwasser bedrohten Wohn- und Residenzgebieten, aber auch von zu nah am Wasser ausgewiesenen Gewerbe- und Industriegebieten, werden die Entscheider künftig nicht umhin kommen, bestehende Flächennutzungs- und Bebauungspläne zu revidieren und sie dem Hochwasserschutzgesetz entsprechend anzupassen. Weiterhin davon auszugehen, Überschwemmungsereignisse der vorliegenden Art träten in den betroffenen Regionen im Mittel nur alle hundert Jahre auf, ist unangebracht.

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