Zwischen Hagen, Witten, Wetter/Ruhr und Dortmunds Ortsteil Kirchhörde im schönen Süden der Westfalenmetropole liegt Herdecke. In der idyllisch gelegenen Kleinstadt an der Ruhr zwischen dem Harkort- und Hengsteysee wohnt viel lokale und regionale Prominenz. Juristen aus Dortmund, Bochum und Hagen genauso wie Hochschullehrer der TU Dortmund, Ruhr-Uni Bochum und Universität Witten/Herdecke; dazu Manager und Geschäftsleute der Region, Schauspieler und Journalisten. Auch Jürgen Klopp, Ex-Trainer von Borussia Dortmund, hat hier sein Domizil, Ex-BVB-Präsident Rauball und Geschäftsführer Lars Ricken ebenso. Architekten haben etliche gesicherte Villen und Anwesen ihrer Bauherren hier verwirklicht. Der Ruhrradweg führt hier entlang, das Ruhr-Viadukt überspannt mit seinen Rundbögen den Fluss an der Ortsgrenze zu Wetter und nicht weit davon liegt das Wasserschloss Wedringen.
In dieser Enklave des Wohlstands soll die frischgewählte Oberbürgermeisterin von Herdecke, Iris Stalzer (SPD), vor knapp einem Monat mit 13 Messerstichen von ihrer 17jährigen malischen Adoptivtochter malträtiert worden und knapp dem Tod entkommen sein. Gerichtsmediziner und Ermittler sprechen bei einer solchen Tat im allgemeinen nicht von einer im Affekt, sondern von einem Verbrechen aus Leidenschaft mit Tötungsabsicht. Staatsanwälte sehen darin eine versuchte Tötung, einen versuchten Totschlag oder versuchten Mord. Nicht so Oberstaatsanwalt Bernd Haldorn von der für Herdecke zuständigen Staatsanwaltschaft Hagen, der in der Tat lediglich eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 StGB sieht. Er beruft sich hierbei auf § 24 StGB. Dort heißt es: „Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.“
Ob der Rücktritt vom Tötungsversuch tatsächlich freiwillig geschah, wird das Gericht in Hagen klären müssen. Bekannt geworden sind jedenfalls Äußerungen von Iris Stalzer, denen zufolge sie ihre Adoptivtochter dazu überredet haben soll, den Notruf zu wählen. Im Gegenzug würde sie sie nicht verraten. Sollte sich dies vor Gericht bewahrheiten, dürfte sich eine Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung kaum aufrechterhalten lassen. Stalzer, selbst Juristin, hat sich mit diesem rhetorischen Kniff womöglich das Leben gerettet und ihre Angreiferin vor einer längjährigen Jugendstrafe bewahrt. Zunächst hatte Haldorn keinen Haftbefehl beantragt. Gut zwei Wochen später holte er dies mit der Begründung „Fluchtgefahr“ nach. Statt in Untersuchungshaft kam die Jugendliche jedoch in eine psychiatrische Einrichtung, aus der sie inzwischen unter Auflagen entlassen wurde und unter Aufsicht des Jugendamtes steht.

Iris Stalzer ist seit 1. November formal im Amt. Am kommenden Dienstag erfolgt ihre Amtseinführung. Doch warum hat sie das Amt nach solch schweren Verletzungen überhaupt angetreten, statt sich ihrer vollständigen Genesung zu widmen? Dem Kölner Stadtanzeiger teilte sie mit: „Ich habe einen klaren Auftrag der Wählerinnen und Wähler und werde diesen Auftrag annehmen.“ Sie sei in der sehr guten Erstversorgung und der sehr guten Versorgung in der Klinik schnell genesen, so dass auch gesundheitliche Gründe nicht gegen die Übernahme des Amtes sprächen. Das kann man glauben oder bezweifeln. Dass die Herdecker Verständnis dafür aufbrächten, wenn sie vom Wählerauftrag zurückgetreten wäre, um beispielsweise ihre familiären Verhältnisse zu justieren, sich um ihre Kinder zu kümmern und sich auf den bevorstehenden Prozess vorzubereiten, darf angenommen werden.
Doch die Arbeitsrechtlerin, die von 2004 bis 2020 für die Grünen im Stadtrat saß, scheint ohne politische Funktion nicht auskommen zu können. Gegenüber der Westfalenpost äußerte sie auf die Frage nach einem Rückzug und einer eventuellen Besprechung mit ihrem Ehemann: „Ich habe tatsächlich nicht als erstes mit meinem Mann darüber gesprochen, sondern mit meiner Partei. Da war auch nicht die Frage Will ich das noch?, sondern Wollt ihr das noch?. Und da kam ein ganz klares Ja von allen Seiten. Mein Mann stand von Anfang an hinter der Kandidatur.“ So kennt man das von Vollblutpolitikern seit dem mit einem Messer verübten Attentat auf Oskar Lafontaine (SPD; 1990), mit einer Schusswaffe auf Wolfgang Schäuble (CDU; 1990) und, ebenfalls mit einem Messer, auf die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (2015). Selbstlose Parteisoldaten, die offenbar lieber auf dem Friedhof landen als Partei und Wählerauftrag der eigenen Gesundheit vorzuziehen.
Vielleicht ist Politik eine Ersatztherapie für Stalter, die sie davor bewahrt, in ein psychisches Loch zu fallen und mit sich ins Rigorosum gehen zu müssen, zu fragen, was schiefgelaufen ist, zumal es schon vor dem Angriff zu harschen Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrer Tochter gekommen sein soll. Darüber hinaus dürfte es vielen Menschen schwerfallen, hart erkämpfte Privilegien und Einfluss abzugeben. Trotz eines derart fulminanten Einschnitts in ihr Leben, wie ihn Iris Stalzer erfahren hat, einen 23000-Einwohner-Ort verwalten zu wollen, mag da bei Parteifreunden und Anhängerschaft nach Verantwortungsbewusstsein klingen. Aber ist es das auch?
GEOWIS

