Christoph Heusgen, Altkanzlerin Merkels langjähriger Sicherheitsberater und anschließend verlängerter Arm als Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen, in der Anschlussverwendung ab 2022 dann Leiter der Munich Security Conference (MSC), hatte sich wie die meisten Teilnehmer den Auftritt des US-Vizepräsidenten sicherlich anders vorgestellt. Zumindest Heusgen, Neusser Schützenkönig von 2023 und als geborener Düsseldorf praktisch qua Geburt der Spezies der rheinischen Frohnatur zugehörig, war vor der Rede noch davon ausgegangen, Vance werde „wohl einen größeren Truppenabzug aus Europa“ verkünden. Doch nichts dergleichen kam Vance über die Lippen. Bestenfalls ließe sich mittels eines PCR-Tests für Interpretationsspielraum aus den im Raum stehenden zu geringen Beitragsleistungen der europäischen Nato-Mitgliedsländer so etwas extrapolieren.
Aus dieser polymerasen Kettenreaktion hätte Heusgen seine Vermutung ableiten können, zumal US-Präsident Trump während seiner ersten Amtszeit (2017-21) rund 1300 Truppen aus Deutschland abgezogen hatte, dessen Nachfolger Biden sie jedoch gleich um etwa 5000 wieder aufstockte. Ende 2024 betrug die Zahl der hier stationierten US-Truppen knapp 39500. Immerhin erfüllte sich seine Hoffnung, „Konturen eines Plans zu sehen, welche Parameter in einem Abkommen“ zur Befriedung der Ukraine enthalten wären. Wenn auch einen Tag später und nicht von Vance verkündet. Der noch im vergangenenen Sommer von führenden deutschen Medien eher belächelte Kandidat für die Vizepräsidentschaft leitete den zuvor von Trump angekündigten und seitdem begonnenen Paradigmenwechsel der US-Politik lieber mit uramerikanischen Themen ein: Defizite in der aktuellen Demokratie, der Meinungsfreiheit und in der Begrenzung illegaler Migration. Probleme demnach, die in den USA und den EU-Staaten evident sind.
Ohne dabei Deutschland direkt anzusprechen, war sofort klar, dass es sich genauso angesprochen fühlen durfte wie die von Brüssel aus herrschende EU-Kommission, denn seit Trumps Wahl zu einer zweiten Amtszeit hatte sich angekündigt, dass ein anderer Wind vom Atlantik auf das europäische Festland wehen würde. Davon kündeten Sympathiebekundungen für die AfD, die Einladung ihres Vorsitzenden zur Vereidigung von Trump und die unsubstantiierten wie herablassenden Äußerungen des inzwischen aus der EU-Kommission ausgeschiedenen Zensors Thierry Breton, bekanntlich mit dem Digital Services Act (DSA) ein erklärter Gegenspieler von Betreibern großer sozialer Netzwerkplattformen, besonders von Elon Musks X, und nun als Berater eines Finanzinstituts im Abkühlbecken der Geschichte, wo er seine Kontakte versilbern kann. Natürlich kabelten die US-Botschafter in den EU-Staaten ihre Zusammenfassungen über die Geschehnisse nach Washington. Dass ausgerechnet aus Berlin und Brüssel Trump und seinem Kreis Einmischung in den hiesigen Wahlkampf vorgehalten wurde, konnte vor dem Hintergrund für die Parteinahme der Demokraten während des US-Wahlkampfs 2024 durchaus als schizophren aufgefasst werden. Das It-Girl des deutschen Klimaschutzes, Luisa Neubauer, war immerhin als Wahlkampfhelferin für Kamala Harris in die USA gereist.
Vance rief allen, die ihm zuhörten, in Erinnerung, dass Meinungsfreiheit essentiell für eine funktionierende Demokratie ist. Beides sieht er in der EU nicht mehr gegeben und konkretisierte das beispielsweise an Thierry Breton. Er sei „erstaunt gewesen, dass „ein ehemaliger europäischer Kommissar jüngst im Fernsehen auftrat und sich darüber freute, dass die rumänische Regierung eine Wahl anulliert“ habe „und er warnte, dass dies auch in Deutschland passieren könnte, wenn es nicht so laufe wie geplant.“ Auch dem Vorreiter des europäischen Nanny-Staates, Schweden, hielt er vor, die Meinungsfreiheit zu missachten, weil ein Gericht einen christlichen Aktivisten wegen dessen „Teilnahme an Koranverbrennungen“ verurteilte, die zum Mord an seinem Freund geführt hätten. Der britischen Regierung unter dem Sozialisten Stamer schrieb er sein Unverständnis über die Verurteilung eines in der Nähe einer Abtreibungsklinik betenden Physiotherapeuten ins Logbuch, weil der gegen das Pufferzonengesetz verstoßen habe. Er „fürchte, dass in Großbritannien und ganz Europa die Meinungsfreiheit zurückgedrängt“ werde.
Auch zu einer der originärsten Aufgaben der Regierung eines Staates, die Sicherheit der heimischen Bevölkerung vor äußeren und inneren Feinden zu gewährleisten, bezog er Stellung, indem er die illegale Zuwanderung und ihre Folgen thematisierte und dabei den Opfern und deren Angehörigen des tags zuvor geschehenen Terroranschlags in München sein Mitgefühl ausdrückte. Illegale Migration zu thematisieren, war auf der Sicherheitskonferenz eher nicht erwartet worden, schon gar nicht in der eleganten Deutlichkeit, mit der Vance dazu ausholte. Dass die illegale Migration eine herausragende Rolle in Trumps beiden Wahlkämpfen gespielt hatte und ihm trotz Relativierung und moralischer Überladung von Biden-Anhängern dies- und jenseits des Atlantiks eine zweite Amtszeit bescherte, war offenbar übersehen oder als nicht sicherheitsrelevant eingestuft worden.
Als einer der ersten stellte sich der Chefverwalter der maroden Bundeswehr, Boris Pistorius, gegen die Anwürfe. Dem Mann aus dem postsozialistischen hannöverschen Umfeld, dem bislang trotz 100 Milliarden Sondervermögens keine nachhaltig in Erscheinung getretenen Erfolge der reparaturbedürftigen Landesverteidigung gelungen ist, fiel als Replik im Kern kaum mehr ein als ein „Das geht nicht.“ Kanzler Scholz, mit dem Vance sich nicht hatte treffen wollen, stattdessen lieber die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel nach seiner Rede empfing, erscheint aus der Perspektive der US-Administration nicht mal mehr nur als eine lame duck, sondern schon als eine reichlich gerupfte zu gelten. Ihm fiel einen Tag später nichts Besseres ein, als den USA Unterstützung der AfD, Einmischung in den Wahlkampf und „unsere Demokratie“ vorzuhalten und dabei auch noch geschichtsvergessen Vances Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau zu missbrauchen und die AfD erneut mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe zu stellen. „Ein Bekenntnis zum „Nie wieder“, wie es Vance am Donnerstag beim Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau abgab, lasse sich „nicht mit der Unterstützung für die AfD in Einklang bringen.“
Bekanntlich waren es die Amerikaner, die Dachau befreiten. Ob Scholz das vergessen hatte? Anstatt auf Vance-Rede inhaltlich einzugehen, verstieg er sich wie ein mutiger Terrier im aussichtslosen Kampf gegen einen Rottweiler und sagte, man werde es „deshalb nicht akzeptieren, wenn Außenstehende zugunsten dieser Partei in unsere Demokratie, in unsere Wahlen, in die demokratische Meinungsbildung eingreifen“ und dass es sich nicht gehöre, „erst recht nicht unter Freunden und Verbündeten und das weisen wir entschieden zurück.“ Wie es mit „unserer Demokratie“ weitergehe, „das entscheiden wir selbst.“ Aufmerksame und kluge Zuhörer dürften anders als Scholz und dessen Umfeld durchaus zwischen Kritik, wie Vance sie vorgetragen hatte, und Einmischung zu unterscheiden wissen. Christoph Heusgen, der letztmalig den Vorsitz der Konferenz innehatte, eher nicht. Er sagte im Rahmen seines Konferenzfazits im heute-journal des ZDFs, dass „dieses Amerika unter Trump auf einem anderen Stern“ lebe. Der Mann hat Humor.

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