Der Kontrast ist frappierend und er ist einmalig in der bundesdeutschen Geschichte der Kanzlerkandidaten. Neben Olaf Scholz, dem Vergesslichen, und Friedrich Merz, dem Schwankenden, die nebeneinander wie die Figuren Pat und Paterchon der gleichnamigen einstigen tschechoslowakischen Kinderserie aus den 1960ern wirken, sind Robert Habeck, der Belesene, und Alice Weidel, die Akurrate, im Rennen um das Kanzleramt. Natürlich ließen sich für diese Kandidaten auch andere Attribute finden und könnten zutreffen. Je nach Blickwinkel oder Momentaufnahme. Zu Friedrich Merz beispielsweise der Ausdauernde, zu Olaf Scholz der Bräsige, zu Robert Habeck der Märchenerzähler und zu Alice Weidel die Adrette. Unter Beweis stellte sie das bereits auf den Titeln verschiedener Print-Medien.
Weidel tritt zu unterschiedlichen Anlässen stets ansprechend gekleidet auf. Das trifft oft auch auf Merz und Scholz zu, wirkt aber uniform und langweilig, was durch das eine oder andere Accessoire durchaus heilbar wäre, wie der Parteivorsitzende der AfD, Tino Chrupalla, der Unterschätzte, an seinen Anzügen zeigt. Erstens sitzen sie wie maßgeschneidert und sind es vielleicht auch, zweitens versieht er sie fast immer mit einem unprätentiösen, dennoch ins Auge fallenden Emblem der Deutschlandflagge am Revers. Gelegentlich, bei Sakkos häufig, fügt er ein weißes Kavalierstuch hinzu. Bei Merz sieht man hin und wieder ein Einstecktuch, ein ähnliches Emblem seltener. Auffällig sind eher seine meistens etwas zu dünn geknoteten Krawatten und zu deutlichen Fliegen. Scholz verzichtet auf ein deutschlandbezogenes Emblem und überwiegend auch auf das Tüchlein in der Brusttasche. Auffällig an ihm war vorübergehend nur seine Mosche-Dayan- Gedächtnis-Augenbinde, die er nach einem Unfall trug.

Und Robert Habeck? Gummistiefel, Jeans und Parka oder Sandaletten, Shorts oder Jeans, halboffenes Hemd sowie hochgekrempelte Ärmel stehen dem ehemaligen schleswigholsteinischen Landwirtschaftsminister sicherlich besser als Merz oder Scholz. Mit Anzügen fremdelt er. Man kann ihm das Fremdeln förmlich ansehen, wenn er leger in krawattenlosem Hemd mit offenem Kragen und noch offenerer Jacke unterwegs ist. Kann man natürlich machen – wenn man zu den U30ern bis U40ern zählt und auf dem Weg zu einer entsprechenden Party ist oder als Ü50er altersgerecht am Küchentisch sitzt. Da kann man sich an die Frühzeit der Grünen im Bundestag erinnert fühlen. Stricknadeln und Wollknäuel brachten manche mit, andere entblößten ihre Oberweite, um den Nachwuchs zu stillen. Alles wenig ansehnlich.
Inzwischen konnte Innenministerin Nancy Faeser ihre Muckis mit Regenbogenbinde aller Welt zeigen. Wir sehen die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, im Vivian-Westwood-Style, also in bunten oder schrillen Gewändern mit Tüchern oder Schal, an den Extremitäten Lametta; Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze und die bündnisgrüne Vizepräsidentin des Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, greifen auf ein Shift dress mit kaum sichtbaren Abnähern zurück, was wenig vorteilhaft erscheint, sowie Annalena Baerbock auf Auslandsreise in viel zu enger weißer Jeans und hellbraunen Cowgirlstiefeln aus Wildleder. Eine karnevaleske Freakshow.
Demgegenüber war die Wandlung von einer bis dahin mit zauseliger Haarpracht aufgetretenen, modisch kaum vorgeprägten einstigen Kanzlerin Merkel zu einer Trägerin von uniformen Kostümen und kragenlosen Jacketts in wechselnden Farben und veränderter Frisur geradezu ikonografisch. Hätte die Schöpferin dieses Looks noch die Idee gehabt, Taschen in den Rock einzulassen, wäre es vielleicht nie zur Raute gekommen. Doch der eher elegantes Understatement entwerfenden Hamburger Mode-Designerin Bettina Schoenbach kam dies erfreulicherweise nicht in den Sinn.

Leger will gekonnt sein, lässig auch, soll es authentisch und seriös wirken. Beides verkörpert Alice Weidel, die aus präpolitischer Berufstätigkeit wissen dürfte, wie man auf der Arbeitsstelle erscheint. Dass sie dafür abseits von reinen Foto-Shootings eine, noch dazu teure, Visagistin oder Stilberaterin benötigt wie etwa die einstige Kanzlerkandidatin und Noch-Außenministerin Annalena Baerbock, ist wenig wahrscheinlich. Bei der AfD-Kanzlerkandidaten harmonieren offensichtlich Outfits und politischer Sachverstand. Wenn sie nicht gerade weiße Sneakers trägt, verleiht sie dem Konservativen, Klassischen selbst in weißem Rolli zwanglos etwas Zeitloses, damit konkurrenzlos Modernes. Es ist gut vorstellbar, dass sie dies glaubwürdig auch in einer Lederkombi oder Jeans, T-Shirt und Racing-Jacke könnte.
Weidel ist kosmopolitisch. Dass sie weder Ressentiments gegenüber Russland und den USA noch gegenüber China hegt, unterstreicht eine realistisch-pragmatische Einstellung, derzufolge Deutschland zwar die zentrale Rolle in Europa zufällt, in der Welt der zur Zeit noch drei Großmächte aber lediglich eine Mittelmacht unter mehreren ist, die sich alleine nicht einmal verteidigen könnte. Sie spricht neben Englisch auch Chinesisch, hat über das „Chinesische Rentensystem“ promoviert und ist während ihrer Jahre in China, über die sie hierzulande öffentlich so gut wie gar nicht spricht, in ähnlichen korrekt sitzender Kleidung gradlinig aufgetreten. Dort wird sie spätestens seit ihres Gesprächs mit Elon Musk auf X geschätzt und gemocht und auch als „deutsches Mädchen“ bezeichnet, wie mehrere chinesische Social Networks zeigen, zum Beispiel sohu.com.

Einer solchen Kanzlerkandidatin steht die Mehrheit der Wählerschaft, folgt man aktuellen Umfragen, skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber. Statt sich darüber zu freuen, dass sie einer auch durch ihre Reden international ernstgenommenen Oppositionspartei vorsteht, die Deutschland wieder vom Kopf auf die Füße stellen möchte, entscheidet sich diese Mehrheit für eine weitere Phase der Verfestigung der Mediokratie, die zwar bequem erscheint, aber – wie sich seit einigen Jahren anhand wirtschaftlicher Kennzahlen feststellen lässt – nach und nach in den Abstieg führt. Den „steilen Weg in den Abgrund“ sieht auch Robert Habeck, wenn die Brandmauer der CDU/CSU falle. Noch bedauerlicher ist angesichts der zu erwartenden Überschreitung der Fünfprozenthürde von SPD und Grünen, dass damit zu rechnen ist, eine weitere Legislatur des mehr oder weniger ausgefallenen Modegeschmacks vom Sack bis zum Sakko in unserem oft als „Hohes Haus“ bezeichneten Parlament zur Kenntnis nehmen zu müssen. Anstatt ihm Respekt und Achtung entgegenzubringen, wird aller Voraussicht nach weiterhin Haltung zur Schau getragen.

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