Ihr Debütalbum 3 Rounds and a Sound erschien zunächst digital am 15. Juni 2008 bei Expunged Records. Mit Hilfe des Musikvertriebs Burnside Distribution und Apples Wahl von Go On, Say It zur Single der Woche bei iTunes erreichte es mit zwei Millionen Downloads drei Wochen später Platz 13 der Billboard Top Digital Albums. Dann unternahm die in Portland, US-Bundessaat Washington, ansässige Band eine ungewöhnliche Promotion-Tour. Von Bellingham aus, einer kleinen Stadt in diesem Bundessaat, fuhr sie mit Fahrrädern nebst individuell gestalteten Anhängern, in denen sie ihre Instrumente und sonstige Ausrüstung verstaute, bis ins 2165 km entfernte kalifornische San Diego. Während der mehrmonatigen Tour gab sie um 30 Konzerte.
In San Francisco wurden die Fahrräder von Drummer Ryan Dobrowski und Sänger/Gitarrist Israel Nebeker gestohlen, wie Dobrowski in einem Interview erzählte. Auf Craig’s List sei das Rad dann zum Verkauf angeboten und von Nebeker wiedererkannt worden. Freunde von ihm hätten den Verkäufer daraufhin zur Rede gestellt. Nebeker habe sein Fahrrad wiederbekommen. Dobrowskis tauchte nie wieder auf. Die bis dahin einzigartige Promotion-Tour by Bicycle brachte Blind Pilot nicht nur viele Sympathien bei Indie- und Alternative-Folk-Liebhabern ein, sondern auch jede Menge kostenpflichtige Downloads und darüber hinaus Einladungen zu renommierten Folk-Festivals. So zum Lollapalooza in Chicago. Plötzlich wollten alle ihre Musik hören, denn einen solchen Indie-Folk kannte man noch nicht. Bekannte Bands aus den 1990er Jahren, etwa die Counting Crows und Calexico, buchten sie als Vorgruppe für ihre Touren, teils auch für Europa.
Kein Wunder, hatten sie doch mit ihrem Debüt ein Album hingelegt, das so ungewöhnlich wie ihre kolossale Fahrrad-Tour ist. Minimalistisch einerseits, umfassend andererseits. Und bescheiden, wie man in mehreren Interviews nachlesen und Videos betrachten kann. Das Sextett, bestehend aus Nebeker (Gesang, Bass, Gitarre), Luke Ydstie (Kontrabass), Kati Claborn (Banjo, Gesang), Dobrowski (Schlagzeug, Perkussion), Ian Krist (Vibraphon, Percussion) und David Jorgensen (Trompete, Hammond-Orgel), hat es offenbar nicht nötig, auf den Putz zu hauen oder Starallüren an den Tag zu legen. Ihre Musik spricht für sich. Ganz gleich, welches Stück man sich von 3 Rounds and a Sound anhört, zu dem Shawn McLain (Violine) und Skyler Norwood (Bass, Vibraphon) beigetragen haben, – man taucht in die Welt einer Band ein, die ihre eigene Szene zu sein scheint. Eine harmonische, ausgeglichen wirkende Szene mit Songs, die nicht nur hervorragend arrangiert sind, sondern auch ans Gemüt gehen und zum Nachdenken anregen. So schon Go On, Say It, ihr iTunes-Hit. Es ist Musik, die sich mit einem längst vergessenen, neuerdings wieder aufgegriffenen Begriff bestens schubladisieren lässt: Lagerfeuermusik. I Buried A Bone, Paint or Pollen, The Story I Heard, One Red Threat, Keep You Right und Poor Boy verifizieren das musikalisch hohe Niveau, und das Titelstück zählt zum Besten, was es zurzeit an traurigen Balladen gibt. Besonders dann, wenn jemandem der Partner weggestorben ist. Dagegen dürfte jede Grabrede eines Kirchenvertreters verblassen.
Im Herbst 2010 spielten Blind Pilot in einigen wenigen ausgewählten US-Städten, so in Boise (Idaho), Boulder und Aspen (Colorado), Salt Lake City (Utah), Berkeley, San Luis Obispo und San Diego (Kalifornien), Tucson (Arizona), Santa Fe (New Mexico), Austin (Texas). Im darauffolgenden Jahr unternahm sie in einem mit Buchregal ausgestatteten Schulbus, genannt Carpinteria, eine Tour durch die USA. Für die nächste größere erwägten sie, den Zug als Transportmittel zu benutzen.
Inzwischen ist ihr Debüt als CD und Vinyl erhältlich, wie auch ihr 2011 vorgelegtes Album We Are The Tide. Kein Geringerer als US-Talkmaster David Letterman lud die Band im Juni 2012 dann in seine Late Show ein und stellte sie, die LP in der Hand, einem Millionenpublikum vor. Sie brachten ihr Titelstück und als sie es vorgetragen hatten, schenkte Letterman Israel Nebeker ein neues Holzfällerhemd. Ein Teil des immer schon wachen Amerikas kennt nun die Band, die anfangs nicht wusste, welchen Namen sie sich geben sollte. Man habe einen Proberaum in einem Hafengebäude oberhalb der Mündung des Columbia Rivers gehabt und draußen die Lotsenboote (pilot boats) gesehen, so Dobrowski, dessen Hobby einst Speed scating war, im Interview mit Imagine Network TV. Als erster Teil des Band-Namens habe ‚Pilot‘ schnell festgestanden. „Wir haben uns dann Gedanken darüber gemacht, wie man den Namen erweitern könnte. Israel schlug Blind Pilot vor (…). Es schien zu jener Zeit Sinn zu machen.“
„Wir wollten den Begriff ‚Blind‘ verwenden (…). Es machte irgendwie Sinn“, so Nebeker, „denn wir standen kurz vor unserer ersten Tour, die wir mit dem Fahrrad bewältigen wollten, obwohl wir nie zuvor eine Tour per Fahrrad gemacht hatten und nicht wirklich wussten, worauf wir uns einließen.“ Sie unternahmen sozusagen einen Blindflug. Das ist nichts Neues in der Entstehung von Bands. Löblich ist, dass eine Band das so sympathisch erzählend zugibt. Keinen Plan, was soll’s? Blind Pilot vertrauten auf ihre musikalischen Fähigkeiten. Fast alle Band-Mitglieder haben Musik studiert, nicht alle bis zum Abschluss. Dann habe es sie gejuckt, weshalb der Bachelor oder Master auf der Strecke geblieben sei, so Dobrowski. Das lehrt einmal mehr, wie wichtig es sein kann, rechtzeitig Entscheidungen zu treffen und die Fähigkeit zum Improvisieren zu besitzen. Es dürfte eine nicht unbrauchbare Erklärung dafür sein, weshalb manche akademische Laufbahn nicht zustande kommt.
Es geht um Spaß, um Selbstverwirklichung. „Es scheint, als ist ein Traum für uns wahr geworden“, so Nebeker. Man könnte dies einerseits als übliches Blabla einordnen, andererseits als Breitseite gegen das Akademische begreifen, als eine Konsequenz, die daraus herzurühren scheint, dass das Akademische früher wie heute großenteils konträr zur Kreativität und häufig auch zur Vokation steht. Das sagen die blinden Lotsen allerdings nicht. Ihre Grundausbildung genossen die meisten Band-Mitglieder zwar schon in ganz jungen Jahren, gefördert durch ihre Eltern, aber die Uni gab noch weitere Einsichten und war vor allem wichtig, um Kontakte zu knüpfen. Indes, Blind Pilot waren – und sind im Kern noch – virtuose Straßenmusiker, die es dank ihrer musikalischen Fähigkeiten inzwischen zu etwas gebracht haben. Man merkt ihnen und ihrem Sound an, dass sie ihre Wurzeln nicht vergessen haben.
Aus Europa kennt man das, besonders aus Frankreich, wo in Arles (Les Suds; diesen Sommer mit Calexico) oder im britischen Glastenbury und anderen Festivals seit Jahrzehnten die besten der Wurzel-Musiker aufspielen. Blind Pilot bekennen sich dazu. Es sind Folkies, die nichts Anderes sein wollen. Sie kennen ihre Vorgänger aus dem American Songbook, knüpfen daran an und erweitern es somit. War ihr Debüt bereits eine Offenbarung an Kreativität, setzt We Are The Tide noch etwas drauf. Sogar so viel, dass man geneigt ist, es als ein an Harmonie nur schwer zu überbietendes musikalisches Kunstwerk dieses Genres zu betrachten. Woody Guthrie, Pete Seeger und einige andere Größen der US-Folk-Szene, könnten sie sich aus ihren Gräbern erheben, würden sich wohl gerne um ein Ticket bemühen.
Es gehörte für Blind Pilot wie für andere Bands dieses Genres zum Selbstverständnis, dass sie nicht allererst in den Big Cities ihr Glück versuchten. Inzwischen sind Gigs dort nachgefragt. Chicago ist eine Big City, Austin auch, Minneapolis, St. Louis, San Diego und natürlich die polyzentrische Bay Area mit San Francisco als Oberzentrum. Dort hatte die Band allerdings längst Auftritte. Doch Blind Pilot vergessen die Provinz nicht, ziehen über Land, treten sowohl vor 50 Leuten wie auch vor 10000 oder 50000 auf. San Luis Obispo? Wer kennt schon diesen Ort? Salt Lake City? Keine Kleinstadt, aber reichlich in der Einöde, mit der Attraktion Mount Rushmore in der Nähe und regelmäßig einfallenden Heerscharen von Grabungstechnikern, Archäologen, Meteoritensuchern und Sedimentexperten. Es zeugt von Haltung und Respekt, in Orten aufzutreten, deren Bevölkerung Kulturelles oft lediglich über den Fernseher dargeboten bekommt. Dahin zu gehen, wo normalerweise der Hund begraben ist, ist ein deutliches Zeichen, das ein Gefühl für Mitmenschlichkeit ausdrückt. Gestandene Musik-Größen meiden die (US-)Provinz normalerweise. Sie mögen große Hallen, Stadien und die professionellen Kameras überregional sendender TV-Stationen. Deshalb sind die meisten Superstars vielleicht noch nie in Orten wie San Luis Obispo aufgetreten. Aus diesem Grund aber auch fühlen sich die in der Provinz heimischen Leute oft vernachlässigt und goutieren es umso mehr, wenn da ein paar vermeintlich durchgeknallte Abkömmlinge von Hippie- oder Yuppie-Eltern aus dem Norden Halt bei ihnen machen. Es gilt ja auch, den Hillbillys und Landeiern einen kulturellen Gegenpol zum Mainstream anzubieten.
Vor allem gilt es, den Folks musikalisch zu demonstrieren, dass Musik eine Verbindung zwischen unterschiedlichen politischen Ansichten zu schaffen vermag. Lagerfeuer? Damit kann sich, abgesehen von Hardcore-Party-Gängern und manch verdrehten, also gefährliche Drogen konsumierenden Rough-Beat-Abfeierern, im Prinzip jeder identifizieren. Just One Lyrics vom Album We Are The Tide, auf dem Nathan Crockett Violine und Joel Meredith Pedal Steel bedienen, ist dazu ein Song, der jeden Provinzler sowas von sentimental werden lassen kann, wie es sich etwa die vorherrschenden Szenen New Yorks, Berlins oder Tokyos nicht mal im Ansatz vorstellen könnten. Woraus man folgern könnte, die Szene in einer Mega City sei eine tumbe Masse von Trend-Huren, die auf Hedonismus geeicht sei, während Bands mit Fokus auf die Provinz, in der ihnen zwar nicht die Masse zuströmt, aber ein emotionales Feedback gegeben wird, zu den Losern zählten.
Wer rechnen kann, ist noch lange kein Mathematiker. Und wer hören kann, noch lange kein Musiker oder einer, der Musik versteht. Doch Musik ist Mathematik. Beides ist universell. Beides hat mit Logik zu tun. Der einzige Unterschied mag sein, dass bei Musik das Momentum eines bis ins Nirwana abdriftenden Gefühls auftritt, das sämtliche Logik unbeachtet lassen kann. Blind Pilot haben hierzu auf We Are The Tide einige Songs im Repertoire. Etwa White Apple Lyrics, The Colored Night Lyrics, Just One Lyrics und New York Lyrics. Die Musik dieser Band ist weit entfernt von der Realität, die weltumspannend den Takt angibt. Sie ist pur, gar rein. Zum Glück können ihre Protagonisten damit auch Geld verdienen.
Die US-amerikanische Indy-Folk-Szene und große Teile der Americana-Szene verkörpern das Gute an den USA. Sie vertreten eine Generation, die nichts mit den Typen in der Regierung und deren Administration zu tun haben möchte. Die Folkies verbreiten neben ihrer Musik eine Haltung. Sie mit 20 oder 30 Dollar dafür zu unterstützen und dabei einen schönen Abend zu verbringen, ist da beileibe kein herausgeworfenes Geld. Die Band, die die Mündung des Columbia Rivers in den Pazifik kennt, ist trotz ihres Auftritts in der Letterman-Show bodenständig geblieben. Irgendwann wird sie wohl im New Yorker Madison Square Garden auftreten, dem US-amerikanischen Konzertarena-Olymp. Gut so.
Mittlerweile ist Indie-Folk auch in Deutschland auf dem Vormarsch. US-Bands wie Family Of The Year, die im Radio rauf und runter gespielt werden, mögen dazu beigetragen haben. Und es gibt hierzulande Eigengewächse wie beispielsweise die Mighty Oaks, die jüngst sogar im ARD-Morgenmagazin auftraten.
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