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REZENSION | 1000 Record Covers

Anfassen und Hören

Michael Ochs‘ Kompendium 1000 Record Covers ist ein Beleg dafür, dass Vinyl und dessen dazugehörige Umschlaggestaltung oft Gesamtkunstwerke sind
Von NIELS BAUMGARTEN |
Lesedauer ca. 4-5 Minuten |
23.07.2013

Ich habe lange überlegt, wie man dem Anliegen des Autors einerseits, dem Buch andererseits gerecht werden kann. Mir kam als erstes in den Sinn, dass es stets ein großes Risiko birgt, eine subjektive Auswahl von gerade einmal einem Nullkomma-X-Prozentsatz von bislang erschienenen LP-Covern herauszuheben, wie der Vinyl-Liebhaber Michael Ochs es im vorliegenden Werk macht. Record Cover? Vinyl? Es soll ja junge Leute geben, die keine einzige Schallplatte besitzen und ihre Eltern fragen, was das für seltsame Dinger gewesen seien, die da in Regalen, Kisten oder Kartons im Wohnzimmer, Keller oder auf dem Dachboden verstaut sind. Und es gibt sicherlich Leute, die sich fragen, was an Vinyl-(Schallplatten) so Besonderes sei? Immerhin benötigt man einen Schallplattenspieler mit Tonabnehmer, um die ins Vinyl gepresste Musik hören zu können. Was für ein Umstand! Mamma! Pappa! Omma! Oppa!

Doch Nachhilfe für Vinyl-Verächter oder sich damit nicht Auskennende soll hier nicht zuvörderst geleistet werden. Es ist mir egal, ob Leute große Fragezeichen in den Augen haben, wenn sie im Kontext zu Tonträgern das Wort Vinyl oder Schallplatte hören oder lesen. Ich fühle mich nicht zuständig für jene, die Musik über ihre internetfähigen Geräte wie Rechner oder Smartphone konsumieren. Ich weiß nur, dass es eine der grandiosen Bildungslücken unserer modernen Zeit ist, wenn junge – und ältere – Leute nicht reflektieren können, was Vinyl für die, die darauf abfahren, bedeutet. Für mich gehören sie in die gleiche Kategorie von Unwissenden wie die über die Bedeutung und Nutzung von Verhütungsmitteln noch nicht Aufgeklärten oder sie Ignorierenden, und auf die gleiche Ebene jener, die denken, Picasso sei eine angesagte Kaffeekreation und Barack Obama wohne in einer Urwaldhütte. Sie, werte Leser, merken, ich habe wenig Verständnis für kulturelle Einfaltspinsel soweit es Musik auf Vinyl betrifft. Das hat nicht nur etwas mit meiner Vorliebe für Schallplatten und den sie ummantelnden Covern zu tun. Das hat auch etwas mit der Frage zu tun, ob man die graphischen Künstler, Fotografen und Gestaltungsverantwortlichen beachtet und deren Arbeit zu würdigen weiß. MP3s kann man diesbezüglich nicht würdigen.

Michael Ochs hat aus seiner mehr als 100000 Vinylalben umfassenden Sammlung weniger als ein Prozent für sein Buch ausgewählt. Vermutlich hat es ihn unerhört viel Zeit gekostet, diese Auswahl zu treffen. Jeder, der Vinyls – oder CDs in ähnlicher Zahl besitzt, kann den Selbstversuch starten. Selbst jene, die nur einen Bruchteil an Vinyls oder CDs besitzen, sagen wir mal: 500 Stück, können, wenn sie ein Prozent davon herausheben möchten, nachvollziehen, wie schwierig es ist, eine Auswahl zu treffen. Und wenn sie gelingt, ist sie subjektiv. Was gut ist, denn so entstehen Diskussionen, Dispute, kulturelle Weiterbildungsformen.

Ochs hat das so gemacht. Er präsentiert viele Vinyl-Cover, die einerseits künstlerisch interessant, andererseits vielfach im Einklang mit der musikalischen Darbietung sind. Ganz klar ist da auch Mainstream durch die Epochen mit von der Partie. Zuweilen ist das Cover besser als die Musik – und umgekehrt. Wer kann schon von sich behaupten, er machte es besser? Voll-Vinyler Ochs bietet ein Kompendium an, das genauso wie ein Wörterbuch als Standardwerk ins Regal eines kultivierten Haushalts gehörte. Für Vinyler dürfte es gar Pflicht sein. Für alle, die sich mit Malerei, Fotografie und Mediengestaltung befassen sowieso. Indes, in Haushalten, in denen nicht mal ein Wörterbuch vorhanden wäre, hätte Ochs Buch auch kaum Chancen.

Für Sammler im deutschsprachigen Raum dürfte interessant sein, dass Ochs wesentlich mit Covern aufwartet, die Erstveröffentlichungen vor allem in den USA und Großbritannien betreffen. An seiner Auswahl – 1960er bis 1990er Jahre – lässt sich zudem die politisch-soziale Kulturgeschichte vergangener Jahrzehnte ablesen, vor allem, was Freizügigkeit angeht. Nie wieder gab es so erotisch anmutende Vinyl-Cover wie in den 1960ern und 1970ern. Selbst die mit recht fortschrittlicher Pop-Musik angetretenen B 52’s Ende der 1970er Jahre warteten mit hübsch anzusehenden – bei den beiden Damen – Bienenkorbfrisuren auf. Was zeigt, dass die Welt zumindest in dieser Hinsicht seit den vergangenen drei Jahrzehnten prüder geworden ist, obschon in der TV-Werbung und im Internet das Pornöse geradezu dominiert. Aber nur gucken, nicht anfassen. Haptisches Erlebnis: null.

Ochs hat mit 1000 Record Covers, einem Longseller seit 1996, neben der Auswahl nach Gestaltung auch die auf den Vinyls vorhandene Musik berücksichtigt. So sind viele Klassiker aus Rock, Pop, Avantgarde und weiteren Genres vertreten, und Bands, von denen bis heute so manche Musikliebhaber nicht gewusst haben, dass es die gab.

Michael Ochs: 1000 Record Covers. Soft-Cover mit Klappumschlag. 580 S.; ISBN 978-3-8228-4085-6. Ausg., Taschen, Köln, 2005

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