Alex MacLean ist Fotograf, Architekt und Pilot. Er fliegt über die USA und macht brillante Bilder von deren Landschaften und Städten. Die Aufnahmen sind schlicht schön und gleichzeitig spektakulär. Die 242 Fotografien dieses prächtigen Bildbandes zeigen aber nicht nur Aufnahmen des Raums, sondern interpretieren auch die Prozesse, die in ihm stattfinden. Indem er die Bilder neun Bereichen zuordnet, konfrontiert er uns mit den Folgen des menschlichen Eingriffs in Landschaft und Raum. Er dokumentiert damit die „Verwundung“ des Raums auf eindrucksvolle Weise. Ihm geht es dabei um die von Menschen gemachten und gesteuerten Ursachen, die Landschaft und Umwelt beeinflussen, verändern und – oft genug – zerstören. Sowohl die Natur, als auch letztendlich den Menschen.
MacLeans gestochen scharfe Fotos sind eine Anklageschrift, die die Probleme und Gefahren des menschlichen Fortschritts darlegt und seziert. Sie zeigen allerdings auch hoffnungsvolle Motive und Auswege aus dem Dilemma. Im Abschnitt Atmosphäre sind von einer dicken Smogschicht erdrückte Vororte und Felder zu sehen; in Lebensstil die Folgen unseres hemmungslosen Ressourcenverbrauchs, zum Beispiel eine künstlich zu bewässernde Golf-Insel mitten in der Wüste von Arizona. Im Kapitel Abhängigkeit vom Auto führt uns MacLean frappierend vor Augen, wie viel Platz wir dem PKW einräumen und wie speziell die USA vom Automobil abhängig sind. Stromerzeugung greift Atomkraftwerke ebenso auf wie Windturbinen oder Solaranlagen in Kalifornien. In welch unwirtlichen Gegenden Straßen und Siedlungen errichtet wurden und welche Narben diese in der Landschaft hinterlassen, etwa die nie bebauten Straßengitter in der Wüste New Mexicos, lässt sich im Kapitel Bedrohte Wüsten betrachten. Unvermittelt stellt sich einem die Frage: weshalb wohnen dort Menschen? Der Abschnitt Wasserverbrauch handelt von teilweise grandiosen, teilweise absurden Bewässerungsprojekten.

MacLean thematisiert unter der Rubrik Anstieg des Meeresspiegels mit ausdrucksstarken Aufnahmen auch das Ausmaß der Verwüstungen durch den Hurrikan Katrina und die alltägliche Gefahr für viele Küstenstädte. Hoffnungsvollere Bilder werden uns dann im Kapitel Abfall und Wiederverwertung geliefert, in dem Windkraftanlagen oder ein Dachgarten auf dem Rathaus von Chicago zeigen, wie man mit den Ressourcen nachhaltig umgehen kann. Stadtentwicklung schließlich beschäftigt sich mit der demographischen Komponente, dem Bevölkerungswachstum. Noch unbebaute, aber bereits beplante Baugrundstücke nehmen die künftige Siedlungserweiterung vorweg; Bilder verschiedener Downtowns zeigen die Verdichtung in den Zentren.
Ein beherrschendes Motiv von MacLeans Fotografien ist die jahrzehntelange Suburbanisierung, das meist unkontrollierte Wachstum und Ausufern der Städte ins Umland wie ein Überschwappen und Ausfransen im Raum. Der Wissenschaftsjournalist Bill McKibben spitzt es in der Einführung so zu: „(…) die suburbanen Zonen (…) könnte man auch als Sinnbilder einer sehr realen Vergewaltigung der von uns bewohnten Landschaften bezeichnen (…)“. Bei Planung und Entstehung der neuen Ortschaften spielen nicht mehr klassische Faktoren wie Flussübergänge oder Handelswege eine Rolle, sondern sie gehorchen anderen Gesetzen, etwa denen der Immobilienwirtschaft. Das Ergebnis sind Siedlungen, die sich auf den Bildern in das unwirtliche, zuvor intakte Ökosystem einer Wüste fressen. Sie hängen am Tropf von Straßen und Versorgungsleitungen, die sie miteinander verbinden.
Letztendlich spiegelt sich in den Bildern das Lebensmotto der amerikanischen Gesellschaft: nämlich Wachstum. Gleichzeitig zeigen die Fotos diesem Paradigma auf brutale Weise seine Grenzen auf – ökologisch, demographisch, ökonomisch. Die Suburbanisierung als Wohn- und Lebensentwurf ist aber auch Abbild und Resultat der unaufhörlichen Individualisierung dieser sich in der Fläche ausbreitenden Gesellschaft. In den gesichtslosen Vororten lebt jeder für sich in Häusern, die mit den Jahren immer größer wurden. Manche muten wie Schlösser an. Und der Abstand zu den Nachbarn wurde ebenfalls immer größer.
Das Buch nimmt den Betrachter in seinen Bann, ist ganz und gar kein Prachtband zum oberflächlichen Durchblättern. Vielmehr bleibt der Blick an den Fotos im Großformat haften und man entdeckt immer wieder Neues. Sie lassen einen gleichzeitig schaudern und staunen, bieten sie doch eine Fülle an Informationen, vorder- und hintergründig. Manches wird erst auf den dritten Blick und Gedanken klar, wie bei Stereogrammen, in denen ein 3D-Motiv versteckt ist und auf das sich Augen und Hirn erst einstellen müssen. Das Buch ist somit ein echter Hingucker für Laien und Fachleute. Vor allem Geographen, zu deren wissenschaftlicher Lektüre nicht gerade Bildbände gehören, dürften an den in Fotografien gemeißelten Lehrsätzen ihre helle Freude haben. Auch die Aufmachung und das wunderbare Bildformat sind erstklassig. Ein „coffee table book“ eben. Wobei man dafür einen wirklich stabilen Tisch wählen sollte. Und einen, der einen festen Platz im Wohnzimmer hat.
Dr. phil. Ralf Mai, Geograph, Autor und unser Freund, verstarb am 16. März 2012 im Alter von 41 Jahren. Er hinterlässt Frau und Tochter.
Alex MacLean: OVER – Der American Way of Life oder Das Ende der Landschaft. Mit einer Einführung von Bill McKibben und einem Interview mit Jean Dethier. Hardcover, 336 S., 242 Farbtafeln; Format 225 x 330 mm; ISBN 978-3-8296-0383-6; 2. Auflage, Schirmer/Mosel, München, 2010

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