War der Fall der Mauer zwischen Ost und West vorhersehbar, nachdem der Westen jahrzehntelang auf den erfolgten Zusammenbruch des kommunistischen Ostens hingearbeitet hatte? Waren die Terroranschläge vom 11. September 2001 vorhersehbar, nachdem der gleiche Westen auf der einen Seite seit gut 20 Jahren Friedensbemühungen zwischen Palästina und Israel unternommen, auf der anderen aber die Anhänger des Islam eiferisch diffamiert und bekämpft hatte? Offiziell nicht. Beide Ereignisse und deren Folgen seien völlig unvorhersehbar gewesen, heißt es seitdem von der Mainstream-Presse, die ihre Verlautbarungshaltung an den Stream herrschender Politakteure anpasste. Genausowenig sei die spätestens seit 2007 evidente Weltfinanzkrise, die – nimmt man es genauer – mit dem Bubble burst der Internet-Start-up-Hysterie 1999/2000 begann und durch 9/11 noch befördert wurde, vorhersehbar gewesen.
Das sind keine neuen Fragen oder Erkenntnisse für jene, die sich abseits der verlautbarten Meinung von politischen Entscheidern mit der Materie beschäftigen. Cooper Ramo aber macht daraus einen big deal, wie es im Amerikanischen heißt, wobei einige seiner Thesen durchaus erhellenden, keineswegs aber neue Erkenntnisse gewinnenden Charakter aufweisen. Das Buch liest sich locker-flockig leicht und ruft durch die Presse der vergangenen drei Jahrzehnte gegangene politische und ökonomische Ereignisse in Erinnerung.
Als geradezu deprimierendes Beispiel für versäumte Weiterbildung aufgrund einmal erworbener Stellung, Prominenz und ideologischer Verharzung nennt der Autor den ehemaligen Chef der privatwirtschaftlich organisierten und einst die Dollar-Notenpressen beaufsichtigenden Federal Reserve Bank (FED), Alan Greenspan. Im US-Kongress antwortete der Ex-FED-Chef – so Cooper Ramo – auf die Frage, ob „sein Blick auf die Welt, seine Ideologie“ falsch gewesen sei, „nicht funktioniert“ habe: „Absolut.“ Cooper Ramo weist nicht nur an diesem Beispiel nach, wie sehr jemand, der an einer entscheidenden Position steht, allein aufgrund ideologisch verbrämter und mangelnder inhaltlicher Weiterentwicklung das Schicksal von zigtausenden Unternehmen und vielen Millionen Erwerbsfähigen und -tätigen nachhaltig negativ beeinflussen kann. Er verweist auch auf die investorische Weitsicht von Michael Moritz, ehemals Partner von Sequoia Capital, der einflussreichsten Risikokapitalgebergesellschaft auf dem Planeten, ohne die es das Silicon Valley von heute kaum gäbe. Ramo preist Moritz geradezu, dass er den Google-Gründern 12,5 Millionen Dollar gab, die sich inzwischen mehr als vertausendfacht hätten.
Im Preisen ist der Autor ziemlich gut. Zwar ist es wissenschaftliche Sitte, seine Helfer und Unterstützer in einer dem Text vorangestellten Danksagung zu erwähnen oder zu würdigen, und ansonsten üblich, sein Buch irgendeinem Familienmitglied oder engem Freund zu widmen, doch Ramo übertreibt. Er widmet das Buch zu Anfang mit den Worten „For my mentors“ seinen Unterstützern und platziert die Danksagung, in der er prominent Kissinger Associates Inc. huldigt, an das Ende seines Textes. Eine solche Vorgehensweise sagt viel aus über einen Autor. Etwa, dass seine „intellektuelle Freiheit“ (Ramo) ihre Begrenzung in der vorherrschenden Ideologie unter seinen Mentoren findet, mithin nicht zu erwarten ist, dass deren Thesen angegriffen oder adaptiert werden. Dem Autor gelingt das recht gut. Fast so gut wie einst dem inzwischen knapp 87jährigen ex-deutschen Polithaudegen Heinz ‚Henry‘ Alfred Kissinger, der aufgrund von gegen ihn gerichteten Haftbefehlen noch immer nicht nach Chile oder Spanien reist, mit seiner 1957 erschienenen Politkarrieren-Bewerbungsschrift Nuclear Weapons and Foreign Policy.
Auf rund 260 Seiten referiert Ramo US-zentriert und gelegentlich im Plauderton, um seine Kernthese von der politischen Elastizität und Störungstoleranz („resilience“) mitunter mittels Einpflegens von Anekdoten zu veranschaulichen. Diese Resilienz sei nötig, um mit undenkbaren und unvorhersehbaren, teils kataklystischen Ereignissen variabel umgehen zu können. Er unternimmt hierzu einen Streifzug durch die Weltgeschichte der vergangenen Jahrzehnte, hebt auf die Taktiken der Hizbollah ab, auf die Schwarzweißsicht der Bush-II-Ära, weist auf das einst festgefahrene Blockdenken der Kalten Krieger hin, auf China als „neuem“ global player und auf die Thesen mancher Forschungsergebnisse des Ökodiktaroren Crawford Stanley Holling, ohne neue Erkenntnisse zu liefern.
In der englisch- und der deutschsprachigen Presse erhielt das Buch vorwiegend wohlmeinende Kritiken. Von der eidgenössischen Neue Züricher Zeitung (NZZ) bis zum Adaptier- und Pseudo-Rezensionsportal perlentaucher hagelte es butterweiche Liebkosungen für Ramos Allgemeinplätze. Kein Wort zur Substanz, kein Wort zum mangelnden Erkenntnisgehalt und kein Wort über des Autors Eingebettetheit im dynamischen System der Reproduktion althergebrachter Ideologien mit neuem Antlitz.
Joshua Cooper Ramo: The Age of the Unthinkable. Why the New World Disorder constantly surprises us and what to do about it. Hardback, 282 S., ISBN 978-1-4087-0058-7, Little, Brown, London, 2009

GEOWIS