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Titelausschnitt
REZENSION | Peter Russell & Senta Slingerland

Game Changers

Zum 60. Jubiläum des Lions International Advertising Festival ist Game Changers - The Evolution of Advertising erschienen. Ein Buch im Atlasformat, das nicht nur der Branche gefallen dürfte
Von UWE GOERLITZ |
Lesedauer ca. 7-8 Minuten |
18.11.2013

Werbung soll zum Kaufen verführen. Das Prinzip gilt, seit Menschen den Tauschhandel begonnen haben. Die längste, frischeste oder kräftigste Gurke gegen eine Zahlmünze, Gewürze oder ein Bronzemesser. Anbieter mussten sich für ihre Produkte auf den Märkten lautstark Gehör verschaffen, wenn sie gleiche oder ähnliche wie die Konkurrenz feilboten. So ist es bis heute, wenngleich seit der Erfindung des Buch-, Offset- und Siebdrucks, der Fotografie, bewegter Bilder, des Radios und des Internets moderne Formen des Marktschreiens hinzugekommen sind.

Seit Vance Packard 1958 mit dem Buch Die geheimen Verführer auf den Markt kam, wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass Werber sich längst mit dem Unbewussten befassen, mit der Wirkung von Farben, Gestaltung und Kernbotschaften. Ziel: Kauf mich, ich bin das Beste, Schönste, Praktischste usw. Die Werbeindustrie war seinerzeit wenig erfreut über das Buch. Heute regte ein solches Buch niemanden mehr auf. Das Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften und die Ausbildung zum Mediengestalter zählen zu den beliebtesten Berufswünschen junger Leute. „Irgendwas mit Medien oder Werbung“ plappern zudem jene, die sich mangels ausreichender Berufsorientierung nicht entscheiden können.

Hardcover-Ausgabe, Schutzumschlag, 1992

Fünf Jahre vor Packards erfolgreichstem Werk wurde an der Côte d’Azur im damals mondänen Cannes das Lions International Advertising Festival ins Lebens gerufen, das seitdem Trophäen („Löwen“) in Gold, Silber und Bronze für die besten Werbekampagnen, insbesondere Werbespots, an die Kreativsten der Branche vergibt. 60 Jahre später ist Werbung nahezu überall dort allgegenwärtig, wo potentiell Kundschaft anzutreffen ist. Rechtzeitig zum Jubiläum erschien Game Changers, in dem ein fulminanter Querschnitt preisgekrönter, künstlerisch mitunter anspruchsvoller, aber auch humorvoller und zum Schmunzeln anregender Werbeaktionen versammelt sind. Die seit Jahrzehnten diskutierte Frage, ob Werbung Kunst sei, kann jeder Leser und Betrachter für sich beantworten.

Game Changers, unterteilt in zwölf Kapitel, jedes mit einleitendem Text versehen, manche dazu mit Essays von Werbern unter der Rubrik Eye Witness, ist gleichwohl eine kleine Kunst- und Kulturgeschichte der Branche, die laut Magna Global Advertising Forecast 2013 weltweit knapp eine halbe Billion US-Dollar umsetzen wird.¹ Fast ein Drittel davon in den USA. So lässt sich in Game Changers etwa die Progression in der Werbung für Automobile nachverfolgen. Für Volkswagen in den USA ist bis heute die Agentur DDB zuständig, die 1959 mit ihrer preisbedachten Kampagne und dem Slogan „Think small.“ schon früh den Kleinwagen im Land der mächtigen Spritschlucker propagierte. 2003 brachte DDB eine Gruppe von Cops hinter einem zwischen zwei US-Cabrios älteren Baujahrs eingeparkten VW-Polo in Deckung. Slogan: „Small but tough. Polo.“

Auch die Entwicklung von Apple lässt sich anhand zweier Kampagnen (Agentur: TBWA) geradezu im Zeitsprung betrachten: den inzwischen zu Kult gewordenen Spot von Ridley Scott zur Einführung des Macintosh, dem ersten Desktop-PC mit graphischer Benutzeroberfläche (1984), für den Scott eine Frau im Sportlerinnen-Outfit und einem mächtigen Vorschlaghammer in den Händen bedrohlich durch eine düstere Blade-Runner-Kulisse sprinten lässt, und für den iMac Core Duo 17 Zoll (2006). Die kreative Vielfalt der Werber, die über den lange Jahre verwendeten Begriff Gebrauchsgrafik und das simple Anpreisen von Produkten durch mehr oder weniger sprachbegabte Figuren weitgehend hinausgewachsen ist, wurde einer breiten Öffentlichkeit erstmals mit dem Ende 1985 in die Kinos gekommenen Film Cannes Rolle ’85 verdeutlicht. Vor allem konnte man in diesem Film sehen, dass soziale und gesellschaftliche Anliegen sich auch werbefilmerisch behandeln lassen. Prämiert wurden beispielsweise ein französischer Anti-Drogen-Spot und der wohl bislang beste gegen das Tragen von Pelzen, initiiert von Greenpeace und Lynx-Anti-Fur (Agentur: Yellowhammer).

Macintosh-Werbung 1984

Gesellschaftskritiker hatten endlich das Werben für ihre Zwecke und Botschaften abseits der Litfaßsäulen und Plakatwände entdeckt, wie auch Konzerne, die auf einmal mehr riskierten, indem sie Ästhetisches in den Hintergrund, Schockierendes hingegen in den Vordergrund rückten. War etwa die italienische Firma Benetton in den 1980ern für ihre als „Schockwerbung“ bezeichneten Kampagnen noch arg kritisiert und vor Gericht gezogen worden, schockte es 2003, als TBWA für die Sony PlayStation einen Männerkopf aus der Vagina einer Frau herausziehen ließ, niemanden mehr. The Evolution of Advertising ist daher ein gut gewählter Untertitel von Game Changers.

Möglicherweise hat der Kinofilm Cannes Rolle ’85 den entscheidenden Impuls dafür gegeben, dass Werbung, besonders Werbefilmchen, heute konsumübergreifenden Charakter hat. Selbst die lange Jahre der Kreativität und dem Mut der angelsächsischen, französischen und japanischen Werber hinterherhinkenden Deutschen können mittlerweile gute Spots machen. Es hat lange gedauert. 1986 sagte der 2011 verstorbene Werbeprofi Walter Lürzer: „Solange die Werbung bei uns nicht als Kulturform angesehen wird, wird sie (bei uns) in dümmlicher Langeweile ersticken.“² Sein Appell trägt längst Früchte, hat indes dem Einzug von Anglizismen ins Deutsche auch Vorschub geleistet.

Anti-Pelz-Werbung von Greenpeace

Werbung beeinflusst aber nicht nur das Bewusstsein zu Kaufentscheidungen, Wahlverhalten oder gesellschaftspolitischer Haltung. Sie prägt schon seit Jahrzehnten auch Stadt und Landschaft. Ein Blick nach Tokyo, Las Vegas, New York oder in die deutschen Innenstädte reicht, um festzustellen, wie omnipräsent und universal sie ist. Und wer zum Beispiel durch Mexiko fährt, sieht monströse Oversize-Plakate auf eigens dafür errichteten Betonstelen. Fünfjährige auf dem Rücksitz lernen auf diese Weise eine Welt kennen, der zu entrinnen sie fortan nur noch schwer in der Lage sein werden. Es ist eine bunte Welt.

Ein Werk wie Game Changers zu besprechen, ist angesichts dessen, was Werber mit ihrer Arbeit bewirken und im Unbewussten eines Jeden auslösen können, mitunter keine Kleinigkeit. Zumal, wenn es um Fairness und Abwägung zwischen Manipulation und Nützlichkeit geht. Das Buch ist hervorragend gestaltet und so manche Kampagne hatte es zu Recht verdient, unters Licht gestellt und prämiert zu werden. Eine kanalisierte Sichtweise, vulgo: Tunnelblick, würde dem vorliegenden Werk, dem der Charakter einer selektiven Werkschau sicherlich innewohnt, allerdings auch nicht gerecht werden. Hinter allen Kampagnen steckt harte Arbeit, die nicht immer Früchte trägt. Hinter allen Kampagnen steckt auch der Impetus Kauf mich!, Wähl mich!, Tritt unserem Verein bei!, Spende!

Aus nihilistischer Perspektive ist Werbung ein giftiger Stachel im Fleisch jedes redlichen Sozialwissenschaftlers, der das Individuum nicht lediglich als Konsumenten betrachtet; aus rationalem Blickwinkel von Werbern innerhalb einer auf Konsum und teils hedonistisch ausgerichteten Welt eine verkaufsfördernde Maßnahme für die Produkte von Industrie, Dienstleistern, Behörden und NROs. Da es klassisch und grundsätzlich um nichts Anderes als um Konsum und Kaufen/Verkaufen gleich welchen Produktes oder Anliegens geht, kann man der werbetreibenden Industrie nur schwerlich böse sein, wenn sie uns sie anpreist. Böse kann man im Prinzip nur denen sein, die uns für dumm verkaufen wollen. Wenn schon, dann bitteschön auf intelligente und ansprechende Weise. Das geht, wie man in Game Changers nachschauen kann.

In dieser Lions-Ads-Werkschau sind überwiegend Ausschnitte von Kampagnen dargestellt, die nicht von deutschen Kreativen stammen. Die meisten Spots sind global angelegt, weshalb sie auch hierzulande Einzug in die Verbreitungsmedien fanden. Das großformatige Konvolut, das durchaus die jüngere Kunst- und Kulturgeschichte der Werbeindustrie teilweise einzufangen vermag, zeigt, was bisher möglich war. Insofern ist Game Changers nicht nur ein Muss für Kreative der Branche, sondern sogar eines für alle, die sich berufen fühlen, „irgendwas mit Werbung“ zu machen. Am besten zielgerichtet. Leuten, die nicht in der Branche arbeiten, bietet es kleine Einblicke in eine Welt, die Großes bewirkt.

¹ Umsatz 2012 laut Magna Global Advertising Forecast: 479,9 Milliarden US-Dollar

² Zitiert aus Der Spiegel, Heft 28/1986

Peter Russell & Senta Slingerland (Eds.): Game Changers. The Evolution of Advertising. Dreisprachig (DE, EN, FR). Mit einem Vorwort von Philip Thomas und einer Einleitung von Arianna Huffington. Hardcover mit Samt-Haptik und halbseitigem Schutzumschlag, 314 S.; ISBN 978-3-8365-4524-2; Taschen Verlag, Köln, 2013

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