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Titel-Ausschnitt
REZENSION | Gonzo

„Come to the quiltin'“

In dieser bisher nicht auf Deutsch erschienenen oral biography kommen Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kollegen, Weggefährten und der engste Kreis des Journalisten und Romanciers Hunter S. Thompson zu Wort
Von LIZ BREMER |
Lesedauer ca. 4-5 Minuten |
23.04.2009

Vier Dokumentationen für Kino oder TV und neun Biographien wurden bisher auf den Markt gebracht. In der vorliegenden erzählen 112 In- und Outsider von ihrer Zeit und ihren Begegnungen mit Hunter S. Thompson (1937-2005). Es sind teils intime, sehr private, teils lustige, teils skurrile Geschichten, Erlebnisse, Sequenzen, Einschätzungen und Gedanken von packender Authentizität, was vor allem daran liegt, dass man die Stimmen hören kann, während man liest. Die Buchstaben fließen durchs Auge direkt ins Hörzentrum, machen einen Abstecher in die Abteilung Visualisierung, wo nach einem Bild gesucht wird, und regen die Phantasie an, wenn keins vorhanden ist.

Von einigen Stimmen sind uns Bilder bekannt. Zum Beispiel von Johnny Depp, der die Einleitung zu dieser Biographie geschrieben hat und im Buch weitere Anekdoten und Erlebnisse preisgibt, die ihn mit Thompson verbinden. So outet er sich nicht nur als enger Freund des Autors, den er im Film Fear and Loathing in Las Vegas spielt und nun für die Verfilmung dessen Romans The Rum Diary vor der Kamera steht, sondern gesteht auch, dass er schon lange ein großer Bewunderer von ihm gewesen war, bevor er ihn im Dezember 1995 persönlich kennenlernte. „Seine Generosität war umwerfend“, sagt Depp. „Nicht ein einziges Mal versuchte er, sich aus meinem nicht enden wollenden Hagel an Fragen zu schlängeln. Er war stets außergewöhnlich geduldig und hilfsbereit.“ Depp habe häufiger eine bis mehrere Wochen bei Thompson verbracht, vor allem zu jener Zeit, als er sich auf seine Rolle in Fear and Loathing in Las Vegas vorbereitete. Doch auch später immer wieder. Doc Thompson habe ihn privat Colonel genannt, aber in der Öffentlichkeit – selbst vor Leuten, die wussten, dass er Johnny Depp sei -, als Ray vorgestellt. Eine Wette zwischen den beiden auf den Sieg eines Fußball-Länderspiels zwischen Brasilien und Frankreich habe Thompson 1000 Dollar gekostet, weil Depp auf Frankreich gesetzt habe.

Eine andere bekannte Stimme ist die des Oscar-gekrönten Schauspielers Jack Nicholson, der auch immer wieder mal auf Thompsons Owl Farm in Woody Creek, Colorado, vorbeischaute und sich in Bezug auf Thompsons Frauen erinnert: „Dieser Übergang von der Assistentin zur Freundin“ sei ein recht stabiler Wesenszug von ihm gewesen, aber ich habe echt nicht mitbekommen, wann der Übergang stattgefunden hat.“ Keine seiner in diesem Buch erzählenden Frauen scheint von Hunter Thompson je losgekommen zu sein. Sie erinnern sich durchaus nicht nur an Schönes, Angenehmes und Aufregendes mit ihm, sondern lassen die eine oder andere Schattenseite ans Licht. Geliebt haben sie ihn alle. Laila Nabulsi etwa, die ihn 1976 bei Saturday Night Live über ihren „besten Freund“ John Belushi (1949-82; The Blues Brothers) kennenlernte, ungefähr fünf Jahre mit ihm verbrachte und später die Filmrechte zum Buch Fear and Loathing in Las Vegas erkämpfte, ist noch immer von ihm fasziniert und schwärmt: „Er hatte ein feines Gespür dafür, wenn jemand seine Aufmerksamkeit benötigte (…). Ich traf ihn, als ich 22 war, und für beinahe dreißig Jahre war er stets da. Auch als ich älter wurde, hing ich an ihm. Sogar als die Dinge sich veränderten, endete die Liebe nicht und endete die Verbindung nicht.“ Nabulsi trennte sich von Thompson, wie zuvor dessen Frau Sandy, die er 1963 geheiratet hatte. Sandy Thompson (geb. Conklin) hatte es am längsten mit dem rastlosen, stets in der US-Welt umherstreifenden und doch so heimatverbundenen Autor ausgehalten und zigmal weggesehen, wenn dieser fremdging. Irgendwann war ihr Akku leer und sie ging, auch formal.

Juan Thompson, Hunters 1964 geborener Sohn, blickt zwiespältig auf seinen Vater zurück, wenn es um sein – Juans – Aufwachsen geht. Doch auch im Hinblick auf Hunters Liebschaften und Lieben, die häufig genug parallel verliefen. Nach der Scheidung von Sandy Thompson habe es eine Vielzahl an Frauen gegeben, wie Juan erzählt. „Da waren die Hauptfrauen Laila, Maria, Nicole, Terry – das waren die Privilegierten -, und da waren unzählige andere zwischen ihnen, die ich niemals oder nur kurz getroffen habe.“ Zwar liefern viele von Hunter Thompsons weiblichen Weggefährtinnen intime Begebenheiten, aber längst nicht alle. So verweigerte sich Anita Thompson (geb. Bejmuk), seine zweite Ehefrau, die er 2003 ehelichte, ebenso wie Maria Khan, mit der er viele Tage und Nächte verbracht hatte. Doch es geht in dieser Biographie nicht nur um Thompsons Frauen. Zu komplex ist das Leben dieses Journo-Phänomens gewesen, als dass es sich auch nur annähernd auf dessen Frauen reduzieren ließe – was die Biographie auf eindringliche Weise den Leser wissen lässt.

Seine Literaturagentin Lynn Nesbit kommt zu Wort („Er sagte zu mir: Wenn du nicht wenigstens 300000 für The Rum Diary erzielst, kriegst du keine Provision von mir.“), seine Verleger, Protegees, Kumpanen, Mitarbeiter, Nachbarn, Vermieter – alle eben, die ihm in entscheidenden Momenten und darüber hinaus begegnet waren, mit ihm Zeit verbracht hatten. Man könnte auf den ersten Blick annehmen, sie alle huldigtem dem bukowskiesken Journo. Doch weit gefehlt. Sie würdigen sein Werk, seine Sensibilität, seine oft phänomenalen Eingaben, Intuitionen, seine Freude, aber sie kritisieren auch seine Rigorosität, seine Unberechenbarkeit, seinen Fatalismus. Letzterer kam herausragend in den 1990er Jahren zum Vorschein, als Hunter Thompson bereits in einem Alter war, das er nicht vorgehabt hatte zu erreichen. Zuletzt sei er nicht mehr so agil gewesen, vor allem nach seiner Hüftoperation. Auch habe er nicht mehr stets auf Freunde hoffen können, die ihm ihre Privatflugzeuge zur Verfügung stellten, wenn er vorgehabt habe zu reisen. So sei er kaum noch von der Owl Farm weggekommen. Er habe diesen Zustand nicht gemocht. Bekanntlich jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Treu, das ist trotz aller Würdigung und Kritik seiner Weggefährten deutlich zu erkennen, sind sie ihm alle geblieben.

Das große Verdienst dieser Biographie ist – anders als etwa in Paul Perrys ‚Angst und Abscheu‘, die nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt reicht und von einem Autor verfasst ist -, das Umfassende bis zu Hunters Tod. In dreizehn Kapiteln kommen die Leute zu Wort. Es scheint, dass sie weder etwas beschönigten noch verbrämten. Es scheint auch, als sei es für alle ein Moment der Wahrheit gewesen, so zu erzählen. „Come to the quiltin'“, wie Johnny Depp es in diesem Buch ausdrückt, als es um die exklusive Vorführung des Films Fear and Loathing in Las Vegas für Hunter Thompson ging, bevor der Film der Öffentlichkeit vorgeführt wurde. „Oh, fuck no, man. Christ – it was like an eerie trumpet call over a lost battlefield.“ Hunter war begeistert.

Übersetzungen: Liz Bremer. Fotos dem Buch entnommen. Copyright: Gonzo International Corporation

Jann Wenner & Corey Seymour: Gonzo: The Life of Hunter S. Thompson. Introduction by Johnny Depp. Tradecover, 470 S., ISBN 978-1-84744-190-4. Sphere Books, London, 2007

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