Was für ein Timing! Die Armuts- und Unterschicht-Debatte, vor zwei Wochen wie aus dem Nichts emporgeschossen, beherrscht die deutschen Talk- und Medienshows, die Leitartikel, ja sogar die Schulhöfe. Hätte nicht die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung den Anlass dazu gegeben – wer weiβ, ob dieses wichtige Buch die Aufmerksamtkeit bekäme, die ihm zweifellos gebührt? Klinger/König arbeiten sich nicht an Zahlenreihen ab oder brillieren mit Diagrammen. In diesem in drei Segmente unterteilten Buch stellen sie zwar die Frage, was Armut (in Deutschland) sei und stellen sieben Thesen „für eine intelligente Armutspolitik“ zur Diskussion, doch die von ihnen präsentierten zwölf Beispiele aus der bundesdeutschen Bevölkerung sind das, worauf es in Einfach abgehängt… ankommt. Es sind keineswegs zwölf Fallstudien. Es sind Tatsachenberichte, von denen jeder einzelne eine Ohrfeige in die Gesichter von politischen Entscheidern und in sicheren Sesseln und Amtsstuben sitzenden Verwaltungsfuzzis ist.
Zum Beispiel der 20jährige Bayer Patrick, der von der Grundschule an auffällig wurde und nun in Köln seine wahrscheinlich letzte Chance auf einen wenigstens mittleren Bildungsabschluss wahrnimmt; oder der Wirtschaftswissenschaftler Markus, 41, der seit Jahren ein stattliches angemessenes Gehalt bezieht, als Altersversorgung Immobilien in bescheidener Dortmunder Lage und in Lüneburg finanziert hat und dann die Macht der Banken kennenlernte; oder die in Dresden gestrandete Jana, 33, die sich mit einer Körpergröβe von 1,57 und drei Kindern am Rock nicht nur gegen den Ermittler der ARGE, der die Zahnbürsten zählen kommt, und das in der Ex-DDR noch immer verbreitete Denunziantentum aus der Nachbarschaft wehren muss – sie hat einen Freund, der übers Wochenende bleibt -, sondern auch von den drei Vätern ihrer Kinder keinen Unterhalt sieht; oder das Dortmunder Ehepaar J., das sich wie wild abstrampelte, sein Auskommen in der Selbständigkeit zu finden, um nur ja nicht „dem Staat“ zur Last zu fallen, und sich am Ende zwischen Finanzamt, Arbeitsagentur und Bank hin- und herhecheln sieht.
Sie alle geben dem Staat keine Schuld, doch der Leser merkt schnell, der Staat trägt Schuld. Und nicht erst seit der Wende. Das griffe ja auch zu kurz. Seit 25 Jahren wird gepredigt, der Gürtel müsse enger geschnallt werden, und als die Wende kam, gesellte sich Pathos hinzu. Mit der Machtübernahme von Rot-Grün im Jahr 1998 dann waren wählerseits Unmengen Hoffnungen verbunden, soweit es die Verbesserung der sozialen Situation einer schon immer dagewesenen Unterschicht – soziologisch gab und gibt es hierzu auch den Terminus Lumpenproletariat (!) – betraf. Das Ergebnis ist bekannt. Der Staat Deutschland hat sich zu lange Regierungen geleistet, die gerade für jene, die nicht die besten Startbedingungen hatten und haben, und für jene, die etwas riskierten und riskieren, nicht viel getan haben und tun; Regierungen, die sich stattdessen an der Zivilprozessordnung von vor hundert Jahren orientieren und über Globalisierung und damit verbundene Sachzwänge schwadronieren und dabei nicht mal mit der Wimper zucken.
Das auch kann man als Essenz dieses Buches mitnehmen, und man darf den Autoren dankbar dafür sein, dass sie zwölf Personen haben zu Wort kommen lassen und deren Umstände in ernüchternder und eindrucksvoller Weise schildern.
Nadja Klinger, Jens König: Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. 258 S., ISBN 3-87134-552-0, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin, September 2006

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